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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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Mein ganzer Körper ist verkrampft. Über Daniel weiß ich eigentlich nur, dass er sich der Miliz immer zu größerer Treue verpflichtet gefühlt hat als sonst jemandem. Er würde alles tun, um vor dem Rat zu glänzen.
    Er dreht mir den Kopf zu, Schweiß tropft von seiner Wange auf meine Schulter. »Ausgezeichnete Arbeit«, antwortet er. » Wenn du die Wahrheit sagst.«
    Einen Moment atmet er mir feucht ins Gesicht. Und dann lächelt er nur, der Lichtstrahl streift seine Zähne. »Gute Nacht, Gabrielle«, sagt er, dann humpelt er zurück in den Leuchtfeuerraum und die Treppe hinunter. Ich höre sein schlimmes Bein bei jedem Schritt, der dumpf polternd durch den Leuchtturm hallt. Unten schlägt die Tür zu, und er schleppt sich den Strand entlang bis zu dem Pfad, der durch den Wald zur Stadt führt.
    Ich erlaube mir, auf dem Boden der Galerie zusammenzubrechen, der Wind leckt mir kühl den Nacken. Schluckend verkrampfen sich meine Finger, bis die Knöchel weiß hervortreten. Was für ein Spiel mag Daniel spielen, und was soll ich als Nächstes tun? Alles geht viel zu schnell. Ich will einfach nur hier sitzen und mir vormachen, es hätte sich nichts verändert. Aber das ist natürlich sinnlos. Alles ist anders. Meine beste Freundin wird die Stadt verlassen müssen. Der Rat wird erfahren, dass meine Mutter weg ist. Und Catcher wird sterben.
    Die einzige Frage ist, was am Ende aus mir werden wird.
    Als genügend Zeit vergangen ist und ich mir sicher bin, dass Daniel weg ist, gehe ich hinunter, hinaus in die Dunkelheit. Der Mond ist hinter der Stadt im Wald verschwunden, und ich habe das Bedürfnis, die Arme um mich zu schlingen, obwohl die Nacht heiß ist. Ich luge in die Schatten, halte Ausschau nach Elias und rufe sogar ein paarmal nach ihm, aber er ist weg.
    Ich bin wie mit Wasser vollgesogen und schwer, als ich wieder zum Leuchtfeuerraum hochsteige und dort eine Weile die Worte des Sonetts anstarre, die meine Mutter in die Wände geritzt hat. Wo mag sie jetzt sein? Ob sie in Sicherheit ist? Ob sie an mich denkt?
    Vollkommen kraftlos trete ich hinaus auf die Galerie und beobachte den durch die Dunkelheit schweifenden Lichtstrahl, der die Welt um mich herum beleuchtet. In der Ferne suche ich wieder nach den kleinen Punkten der Souler-Laternen, doch nichts ist zu sehen. Ich streiche mir mit der Hand übers Gesicht, Müdigkeit zerrt an jedem Teil von mir, die Erschöpfung des Tages schleicht sich in mich hinein.
    Was wird Daniel wohl mit dem anfangen, was ich ihm erzählt habe? Ob er es der Miliz berichtet hat, die sich eventuell schon bereit macht, aus dem Tor zu stürmen und den Soulers nachzusetzen? Ein wenig fühle ich mich verantwortlich, vielleicht hätte ich mir besser überlegen sollen, was ich sage. Aber dann erinnere ich mich daran, wie dieser Junge ausgesehen hat, so blutig und zerstört – und ich kann sein Stöhnen wieder hören.
    Doch diese Gedanken schiebe ich weg, damit will ich mich jetzt nicht beschäftigen. Ich lasse meinen Kopf nach hinten fallen, schließe die Augen und spüre die Brise, die vom Meer kommt.
    Endlich verstehe ich, wie meine Mutter diese Bemerkung über das Vergessen gemeint hat. Wie viel leichter es ist, wenn man den Schmerz davongleiten und bis zum Nichts verblassen lässt. Wenn ich den heutigen Tag vergessen, jeden Augenblick auslöschen könnte, würde ich es frohen Herzens und ohne Zögern tun.

18
    I n meinem Traum sitze ich im Boot meiner Mutter. Mein Rücken schmiegt sich in den Bug, das Segel hängt schlaff, es raschelt kaum in der weichen Sommerluft. Um mich herum sind nichts als Wellen, die sich endlos reihen, eine hinter der anderen. Land kann ich nicht sehen, und ich weiß, ich sollte schreckliche Angst haben, aber das Schaukeln des Bootes gibt mir so ein Wohlgefühl und Sicherheit.
    Im Heck sitzt ein großer Mann, den ich noch nie gesehen habe, seine Hand ruht leicht auf der Pinne. Ich weiß, das ist Roger, der sich früher um den Leuchtturm gekümmert hat, der sie am Strand gefunden hat, nachdem sie aus dem Wald geflohen war. Die Flaute scheint ihn nicht zu stören, er sitzt einfach da, die schlaffe, feuchte Leine in der anderen Hand.
    »Dann übergebe ich es dir«, sagt er.
    Ich blinzele ihn an, überlege, woher ich wohl weiß, wie er aussieht, wie seine Stimme klingt. »Was willst du damit sagen?«, frage ich.
    »Das Licht. Der Strand. Das ist jetzt deins. Wenn du es haben willst.«
    Meine Brust wird ein bisschen enger, wegen der Verantwortung. Ich schüttele den

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