Das Meer Der Tausend Seelen
Poesie«, sage ich und weigere mich aufzuschauen. Die Zähnräder klicken unter meinen Händen, die Räder greifen ineinander.
Mit finsterem Blick richtet er sich auf. »Das ist Eigentum des Protektorats.« Das Licht gleitet über ihn hinweg, und er schweigt, bis ich ihm in die Augen schaue. Ich beobachte, wie ihm Schweißperlen von der Stirn über die Schläfen die Wangen entlangrinnen. Meine Mutter hat in fast jeden Türrahmen im Leuchtturm Zeilen aus Sonetten geritzt, mir war nie der Gedanke gekommen, dass sie deswegen Schwierigkeiten bekommen könnte.
Ehe ich mir überlegen kann, wie ich darauf reagieren soll, lässt er seine Hand durch die Luft schweifen. »Die Rekruter kommen übermorgen. Hoffentlich ist deine Mutter dann nicht mehr zu krank – oder zu beschäftigt damit, fremdes Eigentum zu verunstalten –, um sich mit den anderen Ratgebern zu zeigen. Der Vorsteher erwartet sie. Er schickt mich, um die Nachricht persönlich zu überbringen. Und um sie zu ermahnen, weil sie ihre Pflichten als Leuchtturmwärterin vernachlässigt hat.«
Wieder schweift der Lichtstrahl durch den winzigen Raum und schlägt mir blendend ins Gesicht. Ich schließe die Augen, die Dunkelheit ist eine Explosion heller Flecken. In zwei Tagen wird Cira weg sein. Die Rekruter werden sie und die anderen mitnehmen. Eigentlich hätte ich mit ihr gehen müssen. »Selbstverständlich wird meine Mutter da sein«, sage ich ihm. Hoffentlich klinge ich überzeugend.
Wegen meiner geschlossenen Augen merke ich erst, als er die Hand neben mir aufs Geländer legt, dass er sich näher an mich herangeschlichen hat. Sein Arm umfängt mich beinahe. Er ist zu nah. Ich kann nicht atmen, kann nicht mal denken. Seine Brust drückt sich an meine Schulter, sein Mund ist fast an meinem Ohr.
»Schläft deine Mutter?«, fragt er. Und in seiner Stimme kann ich alles hören. Gänsehaut überzieht meinen Körper. Plötzlich fühle ich mich hilflos und gefangen. Ich rufe beinahe um Hilfe, weil ich hoffe, dass Elias immer noch da draußen ist und mich retten kann.
Doch er hat mich allein in die Ruinen zurückgehen lassen. Er hat sich gegen mich und für die Soulers entschieden. Der Gedanke an die Soulers dreht mir den Magen um.
Daniel muss aus dem Haus. Ich muss ihn irgendwie loswerden.
Sein Atem ist heiß in meinem Nacken, sein Leib drängt mich ans Glas. Ich drehe den Kopf weg, winde mich, aber seine Hand packt meine, seine Finger bohren sich in meine Handfläche. »Komm schon, Gabry«, sagt er.
Also tue ich das Einzige, was mir einfällt, damit er mich in Ruhe lässt. »Ich habe die Soulers gesehen«, erzähle ich ihm mit klopfendem Herzen.
Er hält in der Bewegung inne, hört auf, sich an mich zu drücken, und ich schlüpfe an ihm vorbei, hinaus auf die Galerie. Die Luft hier draußen ist so viel kühler und nicht von Daniels Geruch und meiner Angst getränkt. Er kommt schnell hinter mir her, schleppt sein Bein über den Gitterboden, sodass die Schwingungen auf das Metall übertragen werden.
»Wovon sprichst du?«, fragt er, eindeutig misstrauisch. Das Licht dreht sich weiter, trifft uns und gleitet dann ab in die Dunkelheit. Der Wind pfeift schwach um den Lüftungsschacht über dem Leuchtfeuerraum.
»Da draußen in den Ruinen«, erzähle ich ihm und zeige über die Barriere hinweg. Ich will zurückweichen, als er näher kommt, aber er drückt mich wieder ans Geländer, seine Brust presst sich an meine Seite, sein Kinn liegt schwer in der Mulde an meinem Hals, damit er sehen kann, wohin ich zeige.
»Da habe ich vorhin Lichter gesehen.« Meine Stimme zittert, er ist schweißnass. »Und während des Tages meine ich durchs Fernglas Bewegung gesehen zu haben, eine Gruppe von weiß gekleideten Leuten. Mir ist gerade eingefallen, dass es die Soulers gewesen sein könnten.«
Er kneift die Augen zusammen und drückt sich dabei noch enger an mich, das Geländer bohrt sich in meine Hüften. Nur wenn ich mich darüberlehne, ins Leere hinein, kann ich von ihm abrücken, das ist die einzige Möglichkeit. Wenn ich ein kleines bisschen weiter nach vornüber kippen sollte oder wenn Daniel nur noch ein bisschen fester gegen meinen Rücken drückt, konnte ich übers Geländer ins Nichts fallen. Ich werfe einen Blick hinunter zum Strand, der tief unter mir liegt, und frage mich dabei, ob Elias mich wohl sieht, ob er sich Sorgen um mich macht oder ob er hört, wie ich Daniel von den Soulers erzähle.
Ich warte ab, ob Daniel mir glaubt, ob er mich in Ruhe lassen wird.
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