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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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Kopf. »Das gehört meiner Mutter«, sage ich.
    Er lächelt wehmütig, um seine Augen kräuseln sich kleine Fältchen vom jahrelangen Blinzeln in die Sonne. »Nein, es war nie ihres. Sie wollte das hier.« Er breitet die Arme weit aus, weiter, als es möglich sein sollte, und lässt die Hände über die Wellen gleiten. »Sie war nur nicht bereit, den Rest loszulassen. Wollte nicht aufhören zu warten.«
    Ich schüttele den Kopf und versuche zu verstehen, was er meint.
    »Auf was zu warten?«, frage ich.
    Er schaut mich an, als würde er von mir erwarten, dass ich meine Frage selbst beantworte. Als sollte ich irgendwie schon wissen, was er meint.
    »Auf alle«, sagt er schließlich. »Auf sie.« Mit dem Kinn deutet er auf die Wellen.
    Ich schaue ins Wasser, und da sehe ich sie unter der Oberfläche tanzen. Die Leute. Sie recken sich, gleiten und schlängeln sich, genau wie Mellie, ehe sie angesteckt wurde. Ich ziehe mich ins Boot zurück, doch das genügt nicht – ich kann nicht weg.
    Ihre Hände winken unter Wasser. Ich mache den Mund auf, will schreien, aber heraus kommt Lachen. Ich versuche lauter zu schreien, aber ich lache und lache immerzu. Roger legt den Kopf zurück und lacht mit mir, und ich will ihn packen, um Hilfe betteln, aber außer dem Lachen geschieht nichts.
    Die Körper im Wasser steigen höher und höher, Blasen strömen aus ihren Mündern. Wenn sie an der Oberfläche auftauchen, höre ich kein Stöhnen, sondern Flüstern. Dann greifen ihre Hände über die Reling, gleiten über meine Haut. Sie ziehen mich aus dem Boot und hinein ins Wasser – und ich warte auf die Zähne.
    Sie fahren mit den Lippen über meinen Körper, dabei flüstern, flüstern, flüstern sie, verraten mir ihre Namen, erzählen mir ihr Leben, erzählen mir ihren Kummer. Roger steht im Boot und schaut auf mich herunter, sein Gesicht ist ein Schatten vor dem grellblauen Himmel. Ich kann nicht kämpfen, ich kann nicht aufhören zu lachen, ich kann diesen Menschen-die-einmal-waren nicht widerstehen.
    Nach Luft ringend, wache ich auf und begreife, dass ich immer noch auf der Galerie bin und Regen um mich herum herunterprasselt. Ich schleppe mich in den Leuchtfeuerraum. Bei der Erinnerung an die Finger, die mich im Traum gepackt haben, reibe ich verzweifelt über meinen Körper, um dieses Gefühl loszuwerden.
    Ein Blitz zuckt über den Horizont, ein Funken im schweren grauen Morgen. Ich blicke über den Strand, wo die Wellen schon anfangen zu schäumen. Sturm bedeutet normalerweise, dass Mudo aus dem Ozean hochgespült werden und es vor allem mehr Mudo geben wird, als ich allein bewältigen kann.
    Ich will bloß, dass alles weg ist. Ich bin zu müde. Ich mag mich um all das nicht mehr kümmern. Unter meinen Füßen spüre ich den Nachhall des Donners, und ich seufze tief, streiche mir tropfende Haarsträhnen aus dem Gesicht und gehe nach unten. Dort mache ich mir gar nicht erst die Mühe, trockene Sachen anzuziehen, sondern werfe gleich den Ölzeugponcho über die Schultern und stapfe zur Stadt, um die Miliz zu bitten, beim Räumen des Strandes zu helfen.
    Am Platz in der Stadtmitte hängt der Schmuck schlaff im Regen, Laternen tropfen, unter bunten Bannern bilden sich Pfützen. Das Podium ist in Stoffe in den Farben des Protektorats gehüllt. Für diejenigen, die nicht mit ihnen gehen, ist der Besuch der Rekruter immer ein Anlass zum Feiern. Es ist Vistas Chance zu glänzen, zu beweisen, dass es immer noch einen Platz im Protektorat verdient. Aber heute wirkt alles matschig und durchnässt.
    Ich mache einen Bogen um das geschäftige Treiben, vermeide Augenkontakt, indem ich mir die Kapuze tief ins Gesicht ziehe, und gehe zum Wächterhaus am Tor. Schon von Weitem sieht Daniel mich und humpelt mir entgegen, sein Mund verzieht sich zu einem trägen Lächeln. Im feuchten Grau ist es leicht, die letzte Nacht zu vergessen, und wie finster sein von Schatten umwolktes Gesicht aussah, als er sich über mich beugte, während Elias’ Messer zwischen uns aufblitzte.
    »Wie geht es deiner Mutter, Gabrielle«, fragt er.
    Ich versuche auch ein Lächeln, weiß aber, dass es meine Augen nicht erreicht. »Besser«, sage ich. »Doch bei diesem aufziehenden Sturm werden wir wohl die Hilfe der Miliz am Strand brauchen.«
    Er nickt, und ich denke an meinen Traum, an das Flüstern all der Toten. Ich bin so aufgewühlt, dass ich mit den Fingern auf mein Bein trommele. Vielleicht hätte ich ihm doch lieber nichts von den Soulers erzählen, vielleicht

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