Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
hatte er inzwischen ein Geschick darin entwickelt, mich damit von bestimmten Gesprächsthemen abzulenken.
Nicht, dass es mich gestört hätte, denn ich war bis über beide Ohren verliebt. Der Sommer verging wie im Rausch. Wir verbrachten die Tage schwimmend und sonnenbadend an einem der Strände, fuhren mit Julians schnittigem Kutter auf den Long Island Sound hinaus, bummelten durch die Läden der umliegenden Städte oder besichtigten Sehenswürdigkeiten. Morgens, bevor es zu heiß wurde, gingen wir laufen oder ruderten auf dem Fluss. Danach verschwand Julian für einige Stunden in der Bibliothek, um mit seinen Anwälten und Händlern zu telefonieren, und anschließend gehörte die Zeit uns. Dann überlegten wir uns, wo wir hinfahren oder was wir unternehmen sollten. Einmal versuchten wir es mit Minigolf, wobei sich der sogenannte ehrenwerte Captain Julian Ashford als schockierend unfairer Spieler entpuppte und anschließend den fatalen Fehler beging, sich durch Küssen aus der Affäre ziehen zu wollen.
Natürlich gab es auch andere Tage, nämlich die, an denen er ein-, zweimal in der Woche schon bei Morgengrauen nach Manhattan aufbrach. Ich war fest entschlossen, keine Langeweile aufkommen zu lassen. Also arbeitete ich im Garten, las unzählige Bücher, schickte fröhliche Beruhigungs-Mails an meine rätselnden Angehörigen und Freunde und verzierte meine lange vernachlässigte Facebook-Seite mit lächelnden Fotos. Jeden Monat, wenn ich meiner Mitbewohnerin den Scheck für die Miete schickte, dachte ich staunend daran, wie einfach und doch erfüllt mein Leben geworden war. Obwohl ich nichts Nachrichtenwürdiges leistete und nicht weiter kam als bis nach Newport, fühlte ich mich meiner Umgebung enger verbunden als jemals während meiner hektischen Jahre an der Wall Street.
Und dennoch, ganz gleich, wie gut es mir auch gelang, mich zu amüsieren, abzulenken und sogar Spaß zu haben, vermisste ich Julian. Es war, als würde plötzlich ein lebenswichtiges Organ in meinem Körper fehlen. Natürlich schrieben wir uns E-Mails, und er rief mich zwischen den Sitzungen mindestens einmal an, doch das war nur ein schwacher Ersatz. Ich versuchte, nicht die Minuten bis acht zu zählen oder, auf das Geräusch seines Autos in der Auffahrt wartend, an der Eingangstür herumzulungern. Allerdings wusste ich es ohnehin sofort, wenn er wieder da war. Ich konnte ihn förmlich spüren. Sein Strahlen breitete sich im Haus aus, der dumpfe Schmerz verflog schlagartig, und die entfernten Organe waren wieder heil. »Da bist du ja, mein Liebling«, sagte er mit einem Lächeln und streckte die Arme nach mir aus. Dann fiel ich ihm um den Hals und wurde entweder in die Luft gehoben, geküsst, bis ich nach Atem rang, oder durch den Raum gewirbelt.
Und die Abende! Manchmal gingen wir zum Essen oder ins Kino, aber meistens blieben wir zu Hause. Julian spielte Klavier, Chopin, Beethoven oder Mozart, aber auch Ragtime und alte Varieténummern mit anzüglichen Texten, was dadurch noch komischer wurde, dass er – er hatte mich ja gewarnt – überhaupt nicht singen konnte. Hin und wieder lud er auch Aufnahmen auf seinen iPod und brachte mir den Walzer, die Polka, den Turkey Trot, den Bunny Hop und den Grizzly Bear bei, bis wir uns lachend auf dem Wohnzimmerboden krümmten. Ich ließ mir von ihm die Grundlagen des Fechtens, Boxens, Kricket und Rugby erklären und machte ihn dafür mit den verschiedenen Aspekten des Football, mit besonderem Schwerpunkt auf die Geschichte und die Heldentaten der Green Bay Packers, bekannt. Gelegentlich sang ich ihm vor, oder er setzte mich aufs Sofa und rezitierte Passagen aus den Werken von Shakespeare, Homer oder Wordsworth und irgendwelche albernen Reime, die er in einem Pub aufgeschnappt hatte. Seine ausdrucksvolle Stimme konnte mühelos zwischen hoher Literatur und Unterhaltung wechseln, und er vergaß niemals ein Wort. Ich hätte ihm die ganze Nacht zuhören können.
Natürlich kam es nie so weit, denn wir begehrten einander mit einer Dringlichkeit, die im Lauf des Sommers eher wuchs, als weniger zu werden. Es war, als ob uns die Greifbarkeit unserer körperlichen Vereinigung eine Erklärung für das Geheimnis geliefert hätte, das uns zusammengeführt hatte. Oft fragte ich mich, ob Julian das noch stärker empfand als ich, denn ständig berührte er mich, hielt mich im Arm und zog mich an sich, drängende, bedürftige Gesten, die ihm eher Erleichterung als Freude zu bringen schienen. Manchmal nahm er mich
Weitere Kostenlose Bücher