Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. »Keine Sorge, mir fällt schon etwas ein. Eigentlich ist es meine eigene Schuld. Ich habe drei Monate lang gefaulenzt und Spaß gehabt, anstatt mich ernsthaft mit meiner beruflichen Zukunft zu beschäftigen.«
»Du darfst dir auch einmal eine Pause gönnen, Liebling.«
»Aber nicht auf Dauer.«
»Hör mal«, meinte er, noch immer nicht beruhigt, »wenn du gerne Michelle oder Samantha einladen möchtest oder deinen Bruder. Vielleicht noch einmal deine Eltern …«
Ich biss mir auf die Lippe. Natürlich liebte ich meine Eltern, hatte mich allerdings noch immer nicht von ihrem peinlichen Besuch vor knapp zwei Monaten erholt. Julian, dieser Ehrenmann und Wahnsinnige, hatte nämlich vor dem Heiratsantrag im Mai meinen Vater angerufen und ihn um die Erlaubnis – ja, wirklich, Erlaubnis , nicht etwa um seinen Segen – gebeten, mich zu heiraten. Dad hatte sich vermutlich gefühlt wie ein viktorianischer Familienvater und nicht gewagt zu widersprechen. Allerdings hatten er und Mom darauf bestanden, zwei Wochen später in ein Flugzeug zu steigen, um die Lage zu sondieren.
Julian war natürlich der Charme in Person gewesen, der perfekte Gastgeber, der aufmerksam gepflegte Konversation betrieb. Er war ihnen gegenüber wie ein respektvoller Sohn aufgetreten und hatte mir die übliche entspannte Zuneigung gezeigt. Wir waren segeln gegangen, hatten die Sehenswürdigkeiten besichtigt und in einem der berühmten Restaurants im Ort gegessen. Am letzten Abend hatten Dad und Julian den nagelneuen Weber-Grill in Betrieb genommen und, Flaschen mit Heineken in der Hand, über Steak und Baseball debattiert. »Was denkst du gerade, Schatz?«, hatte Mom gefragt, als sie mich dabei ertappte, wie ich die beiden von der Küche aus durch die Glastür beobachtete.
Oh, wenn Churchill ihn so sehen könnte.
»Nur, wie toll es ist, dass sie sich so gut verstehen«, erwiderte ich rasch.
»Oh, dein Vater hat seine Meinung inzwischen völlig geändert«, versicherte mir Mom. »Er ist begeistert von Julian. Aber ich habe es ihm ja gesagt«, fügte sie mit einem kleinen Seufzer hinzu. »Ich dachte, solche Männer werden heutzutage nicht mehr geboren.«
Das werden sie auch nicht, lag mir auf der Zunge, doch in dem Moment wurde mir klar, dass ich ihr nie im Leben die Wahrheit würde sagen können. Nur Julian selbst durfte dieses Geheimnis preisgeben, falls er es überhaupt wollte. Mein Verhältnis zu meiner Mutter war zwar nicht sehr eng – vielleicht ein Telefonat in der Woche und ein Besuch alle paar Monate –, doch die Erkenntnis hatte mir einen Stich ins Herz versetzt, den ich auch all die träumerischen langen Wochen später noch spürte.
»Sie würden sich sicher sehr darüber freuen«, räumte ich widerstrebend ein. »Michelle und Samantha bestimmt auch. Allerdings ist das im Moment nicht das Problem. Ich möchte mit in die Stadt kommen, und du lässt mich nicht.«
»Es ist doch nicht so, dass ich es dir verbiete.« Er wirkte schockiert. »Ich bitte dich nur darum.«
»Und setzt mich moralisch ziemlich unter Druck.«
»Liebling, wenn dir wegen mir oder meiner lästigen Vergangenheit auch nur ein Haar gekrümmt würde, könnte ich mir das nie verzeihen. Deshalb habe ich mich ja von dir ferngehalten, bis mir die Willenskraft ausging.« Sein Ton war gequält. »Mit meiner Schwäche bringe ich dich in Gefahr.«
Ich umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. »Julian, sei nicht albern. Ich habe mich dafür entschieden. Für dich. Deshalb ist alles, was geschieht, meine Schuld, nicht deine.« Ich lächelte bemüht und verschränkte die Finger hinter seinem Kopf. »Also fahr los. Rette die Welt. Denk nur darüber nach, was ich gesagt habe, einverstanden? Denn du kannst mich nicht für immer in Luftpolsterfolie packen. Das lasse ich nicht zu.«
Er küsste mich, erst zärtlich, dann heftig, stieg ins Auto und fuhr davon. Ich stand winkend in der Auffahrt, bis er um die Kurve gebogen und nicht mehr zu sehen war.
Zeit, Charlie anzurufen. Denn genug war genug.
19
D as ist ja wie ein Gefängnisausbruch. Wird er nicht stinksauer sein?«
Ich verdrehte die Augen und trank einen Schluck Kaffee, nur um ihm zu zeigen, wie locker ich war. »Sei nicht albern, Charlie. Schließlich sperrt er mich nicht ein.«
Wir saßen in einem Straßencafé Ecke Broadway und 116. Straße, unweit der Columbia University, wo Charlie sich vor dem Beginn des Wirtschaftsstudiums gerade in seiner Studentenbude einrichtete.
Die
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