Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
und rückte mir einen abgewetzten Stuhl mit Sprossenlehne zurecht. Das Chat war kein elegantes Lokal, klammerte sich jedoch trotz seines zusammengewürfelten Mobiliars, der schummerigen Atmosphäre und der schmucklosen verputzten Decke mit den dunklen Balken an einen Rest provinzieller Seriosität. Das weiße Leinentischtuch auf unserem Tisch verbreitete fadenscheinige Gutbürgerlichkeit, die uralten Kellner trugen Schwarz.
»Ja.« Ich lächelte überzeugend. »Ehrenwort. Es war nur der Schock.«
»Der Schock?«
»Weil ich Sie endlich gefunden hatte.« Ich blickte ihm in die Augen.
Auf dem Weg zum Café war mir etwas Wichtiges eingefallen. Ich hatte mich in heller Angst ins Amiens des Jahres 1916 durchgekämpft, ohne einen anderen Plan, als Julian aufzuspüren und meine Warnung loszuwerden – ein tragischer Denkfehler. Was hatte ich erwartet? Dass man mir glauben würde, wenn ich einfach mit der Wahrheit herausplatzte? Dass Julian sich sagen würde: Nun, das ist ja wunderbar. Ausgezeichnet, dass Kassandra mir einen Besuch abgestattet hat. Ich verbringe einfach eine weitere Nacht in Amiens und danke meinem Glücksstern?
Nein, die Reise war der einfachste Teil meiner Mission gewesen. Wie mir inzwischen klar war, lag die größte Herausforderung noch vor mir. Ich musste sein Vertrauen gewinnen und ihn irgendwie davon überzeugen, dass ich weder verrückt noch eine Spionin war und dass meine Informationen ihm das Leben retten würden. Und dazu hatte ich nur achtundvierzig Stunden Zeit. Was also tun?
Nun, erstens – so war zumindest der Inhalt meiner Erleuchtung gewesen, während ich über das Kopfsteinpflaster zum Chat d’Or stolperte – liebte mich Julian Ashford. Natürlich nicht in diesem Augenblick. Aber er trug sie in sich, die Neigung dazu, mich zu lieben, mich zu vergöttern und mich – vielleicht der wichtigste Punkt – körperlich auf eine Weise zu begehren, die Männern den Verstand vernebelt.
Diese Begierde, diese Liebe konnte ich wecken. Nur ein wenig, damit er auf mich hörte – wenn ich es geschickt anstellte und fest an meinen Erfolg glaubte. Sei du selbst, dachte ich, als ich seinen Mund, seine Stirn und seine rasch hin und her huschenden Augen betrachtete. Sei die Kate, die er liebt.
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz«, sagte er und erwiderte meinen Blick ebenso eindringlich. »Möchten Sie mir nicht wenigstens Ihren Namen verraten?«
»Ich heiße Kate.«
»Kate«, wiederholte er zweifelnd und argwöhnisch. »Kate …«
»Für den Moment nur Kate, falls es Sie nicht stört.«
Der Kellner brachte einen Teller mit gekochten Eiern, Toast und einem unbestimmbaren Stück Fleisch. Das Essen verströmte einen köstlichen Duft. »Ich dachte, wir hätten Krieg«, sagte ich verwundert.
Er zuckte beiläufig mit den Schultern. »Im Chat findet man immer Mittel und Wege, die Rationierungen zu umgehen.«
»Es sieht lecker aus.« Ich griff nach meinem Besteck. Mein Appetit war so überwältigend, dass ich alles andere vergaß.
Julian beobachtete mich beim Essen. Seine langen Finger ruhten auf den Griffen von Messer und Gabel. Um uns herum schwappte das Stimmengewirr hin und her. »Und Ihre Reise?«, fragte er, während er auf seinem Teller herumstocherte. »Wie lange hat sie genau gedauert?«
Um Zeit zu gewinnen, aß ich einen Bissen, bevor ich antwortete. »Länger, als Sie es sich vorstellen können«, erwiderte ich.
»Den ganzen langen Weg aus Amerika, wie ich annehme?«
»Den ganzen langen Weg aus Amerika.«
»Und Sie sind hier, um mich zu sehen? Mich im Besonderen?«
»Ja«, entgegnete ich mit Nachdruck. »Sie im Besonderen.«
»Hm.« Er schnitt ein Stück von seiner Wurst ab. Dabei machte er ein nachdenkliches Gesicht, als würde er überlegen, wie am besten fortzufahren sei. »Vielleicht sollten Sie besser ganz am Anfang beginnen. Woher genau kennen Sie mich?«
»Jeder kennt Sie, Captain Ashford.«
»In Amerika?«
»Ja. Wir lesen in unseren gemütlichen Blockhütten hin und wieder die Zeitung. Natürlich nur diejenigen von uns, die lesen können.« Ich steckte die vollgehäufte Gabel in den Mund und zog sie langsam wieder heraus, wie Lauren Bacall es getan hätte. Gleichzeitig warf ich ihm unter der schmalen Krempe meines Hutes hervor einen langen Blick zu. Hüte sind etwas Nützliches.
Im ersten Moment wirkte er erstaunt. Dann jedoch breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Und die anderen?«, fragte er.
»Guter Einwand.« Nachdenklich wiegte ich den
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