Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Gott«, flüsterte ich und lief feuerrot an. »Wie … hat er sich denn genau ausgedrückt?«
»Dass du schlicht und ergreifend zu hinreißend aussiehst, um allein hier zu sein, und eine Menge ungebetene Verehrer anlockst.«
»Bestimmt hat er das so elegant formuliert.«
»Wortwörtlich.« Julian lächelte. »Wie ich allerdings feststelle, hat er untertrieben.«
Ich starrte auf meinen Schoß. »Das ist wirklich unfair. Bis gestern Abend hast du monatelang nichts von dir hören lassen, und plötzlich stehst du vor mir, mit deinen Komplimenten und deinem … deinem Frack«, entgegnete ich vorwurfsvoll, als ob es strafbar gewesen wäre, Frack zu tragen. Was es bei einem Mann wie Julian vermutlich auch hätte sein sollen.
»Was möchtest du denn, das ich anziehe?«, fragte er.
»So habe ich es nicht gemeint«, erwiderte ich und hob den Kopf. Auf dem Weg die Madison Avenue hinauf glitten die Lichtkegel der Straßenlaternen über sein Gesicht, warfen Schatten auf seine Wangenknochen und beleuchteten kurz seine blaugrünen Augen. Um eine sachliche Einstellung bemüht, versuchte ich einfach nur den makellosen Schnitt der schwarzen Jacke, die sich an seine Schultern schmiegte, und die sich strahlend weiß von seinem Hals abhebenden Spitzen seines Kragens ästhetisch zu würdigen, ohne ihn anzuhimmeln wie ein Schulmädchen. Aber es war zwecklos. Die förmlich strengen Linien standen ihm zu gut und bildeten einen so vollkommenen Gegensatz zu seinen offenen Zügen, dass ich mich am liebsten kopfüber in die Falten seines Revers gestürzt hätte.
»O Kate«, flüsterte er, »wenn du mich so ansiehst … deine Augen …« Er senkte den Blick. »Ich habe mir in den letzten Monaten solche Mühe gegeben, dir aus dem Weg zu gehen. Nicht auf die … Anziehungskraft zu achten, die du auf mich ausübst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwierig das war. Ich bin sogar so tief gesunken, dir wie ein Schoßhündchen zu folgen, wenn du im Park laufen gegangen bist.« Er schaute mir direkt in die Augen. »Jetzt weißt du es.«
»Oh«, sagte ich ungläubig. »Aber warum?«
»Warum was?«
»Warum wolltest du mir aus dem Weg gehen?«
»Das ist ziemlich schwierig zu erklären«, antwortete er zögernd.
»Na, du kannst es ja mal versuchen. Für mich war es auch nicht unbedingt leicht, dass du so plötzlich abgetaucht bist. Ich hatte da die wildesten Theorien.«
Als er auflachte, klang das nicht sehr fröhlich. »Sicher nicht so wild wie die Wahrheit. Aber lassen wir das für den Moment auf sich beruhen …«
»Nein. So geht das nicht. Ich will es wissen. Ich glaube, ich habe ein Recht darauf.«
»Kate«, sagte er und senkte wieder die Stimme. Dann streckte er die Hand aus und strich mir über den Handrücken. »Bitte. Ich erzähle es dir, versprochen. Aber nicht jetzt. Ich glaube …« Er hielt inne. »Ich glaube, dazu sollten wir uns vielleicht erst besser kennen.«
Sein Ton war so charmant und verführerisch, dass ich alle Vorsicht in den Wind schlug. »Und warum«, begann ich, um zumindest ein wenig Vernunft walten zu lassen, »ist es jetzt in Ordnung, wenn es das vorher nicht war?«
»Es ist noch immer nicht in Ordnung. Ganz im Gegenteil. Allerdings habe ich inzwischen einen Punkt erreicht, an dem es mich nicht mehr kümmert. Ich halte es ohne dich nicht aus und war ein kompletter Idiot zu denken, ich könnte …« Er hielt inne. Seine Hand, mir der er sanft die meine gestreichelt hatte, führte sie nun mit einer raschen, heftigen Bewegung an seine Lippen.
Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten, und zog die Hand zurück. »Das freut mich«, entgegnete ich mit fester Stimme. »Ich habe dich nämlich auch vermisst.«
»O Kate«, sagte er und wandte sich ab, hielt meine Hand jedoch weiter und fuhr mit dem Daumen über meinen, während er gedankenverloren aus dem Fenster starrte.
»Warum«, sagte ich in die vor Anspannung knisternde Luft, »wolltest du mich denn erreichen?«
»Ach, das. Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich mit Miss Martinez von der Post gesprochen habe. Der morgige Artikel wird ziemlich harmlos werden. Ich habe sie gebeten, deinen Namen nicht zu erwähnen, doch sie meinte, dazu sei es bereits zu spät …« Er zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid.«
»Nein, du hast dein Bestes getan. So schlimm ist es nicht. Wahrscheinlich wird rasch Gras über die Sache wachsen. Dann muss ich mir eben ein paar Tage lang dumme Sprüche von meinen Kollegen anhören. Übrigens danke«, fügte ich
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