Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
legte sich meine gute Laune.
Ich ließ die Tüten im Flur stehen, ging in die Bibliothek und setzte mich an den Computer. Der Raum zeigte nach Norden, vermutlich, um die Bücher vor der Sonneneinstrahlung zu schützen. Deshalb war er kühl, dunkel und ruhig und verfügte über einen großen, mit Holz gefüllten Kamin, der gemütliche Winterabende verhieß. Der Raum passte zu Julian. Ich konnte ihn beinahe darin spüren.
Ich warf den Computer an. Noch keine Antwort von meinen Eltern. Sie fragten, wenn überhaupt, nur einmal am Tag ihre Mails ab. Doch ausgerechnet Brooke hatte geschrieben. »Der Portier sagte, dass heute ein Typ für Dich da war. Hat keinen Namen hinterlassen. Sei vorsichtig, Liebes, könnte Ärger bedeuten. Kenn ich aus Erfahrung. xoxo, B.«
Mir lief ein Schauder den Nacken hinunter. War Alicia damit zufrieden, mich aus der Firma zu drängen? Oder würde sie mich auch noch vor die Börsenaufsicht zerren? O mein Gott. Was, wenn ich verhaftet wurde? Meine Finger schwebten über der Tastatur, um Julian eine panische Mail zu schicken. Doch ich hielt mich zurück. E-Mails konnten zum Absender zurückverfolgt werden. Was, wenn sie auch gegen Julian ermittelten, da sie wussten, dass wir uns kannten?
Erschöpft lehnte ich mich zurück und starrte an die Decke. Vielleicht hatte Charlie ja Informationen für mich. Wo war noch mal seine Nummer? In der Laptoptasche, richtig? Ich ging nach oben in Julians Schlafzimmer, wo die Tasche neben der Kommode stand. Ganz oben lagen die Kontaktliste von Sterling Bates und das Buch von Amazon, das kurz vor meinem Aufbruch für mich abgegeben worden war.
Nur, dass es nicht von Amazon war. Die Verpackung wies zwar eindeutig auf ein Buch hin, aber das Amazon-Logo fehlte. The Pearl Fisher Bookshop in Newport, Rhode Island, lautete die Absenderadresse. Vielleicht war das Buch ja von einem anderen Verkäufer angeboten worden, nicht von Amazon selbst. Manchmal klickte ich auf »Einkaufswagen«, ohne genauer hinzuschauen.
Schulterzuckend riss ich das Päckchen auf.
Offenbar lag da ein Irrtum vor, denn das Buch sagte mir überhaupt nichts. Es war gebraucht und anscheinend schon etwas älter, aber in gutem Zustand. Ein Geschichtsbuch. Ich drehte es um und las den Titel: Als die Lichter ausgingen – Julian Ashford und die verlorene Generation 1892–1918 von Richard G. Hollander. Darunter befand sich die sepiabraune Fotografie eines breitschultrigen Mannes in der Uniform eines britischen Offiziers, der mir streng entgegenblickte.
Mit dem Gesicht von Julian Laurence.
Sein Großonkel, dachte ich sofort. Oder ein Cousin. Verwandte konnten einander sehr ähnlich sehen. Wahrscheinlich hatte er es mir selbst geschickt, weil er zu bescheiden war, mir von seinem berühmten Vorfahren zu erzählen, aber dennoch wollte, dass ich etwas über die Familiengeschichte erfuhr.
Mit eiskalten Fingern schlug ich das Buch auf und versuchte dabei, nicht auf das seltsame schrille Klingeln in meinen Ohren zu achten. Dann las ich den Klappentext.
Von all den tragischen Verlusten im Ersten Weltkrieg war es der Tod von Captain Julian Laurence Spencer Ashford, der die britische Nation am meisten erschütterte. Der einzige Sohn des liberalen Kabinettsmitglieds und Vertrauten von Asquith, Viscount Chesterton, kam im März 1916 bei einer nächtlichen Patrouille an der Westfront ums Leben. Er verkörperte all die Ideale, die den Briten jener Zeit heilig waren. Sein strahlend gutes Aussehen, seine zahlreichen akademischen Auszeichnungen in Eton und Cambridge, seine gefeierten sportlichen Erfolge und seine Heldentaten auf dem Schlachtfeld waren bereits Legende, als durch eine Meldung bestätigt wurde, dass er gefallen sei (seine Leiche wurde nie entdeckt). Kurz darauf veröffentlichte seine trauernde Verlobte, die spätere Schriftstellerin und Friedensaktivistin Florence Hamilton, sein Gedicht »Übersee«, das von Generationen britischer Schüler auswendig gelernt werden sollte, in der Times.
Doch wer war Julian Ashford, und warum spielt sein Tod und der seiner Altersgenossen heute noch eine so große Rolle? In seinem bahnbrechenden Werk, in dem er sich auf bis jetzt unbekannte Unterlagen aus dem Besitz von Ashford und Hamilton bezieht, zeichnet Dr. Hollander ein Bild vom Leben dieses Mannes, seinen Kriegserfahrungen und den Ereignissen, die zu seinem Tod auf dem Schlachtfeld führten, und versucht den Folgen dieses Verlustes auf den Grund zu gehen. Sähen Großbritannien und die Welt heute vielleicht
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