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Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Das Meer der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatriz Williams
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anders aus, wenn er überlebt hätte? Und welchen Einfluss hätten all die anderen gefallenen Soldaten und Dichter, die männliche Elite eines goldenen Zeitalters in Großbritannien, auf den tragischen Verlauf des 20. Jahrhunderts genommen?
Dr. Richard G. Hollander, emeritierter Professor der Harvard University, hat eine Reihe von Büchern zum Thema Erster Weltkrieg und dessen weitreichenden Folgen veröffentlicht …
    Ich klappte das Buch zu und legte es vorsichtig aufs Bett.
    Wir haben hauptsächlich in London gewohnt. Mein Vater war ein wenig in der Politik aktiv …
    Und danach bin ich zur Armee gegangen … Es schien mir damals das Richtige zu sein. Abenteuer, Aufregung.
    Nein, nicht im Irak. Das war nach meiner Zeit …
    Die Narbe. Der Mann auf dem Gehweg und sein erschrockener Ausruf: »Ashford, mein Gott!«
    Seine Leiche wurde nie entdeckt.
    Meine Muskeln begannen zu zittern. Ich stand auf, ging im Zimmer hin und her und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Captain Julian Ashford war 1916 an der Westfront gefallen. Das hatte ich bereits gewusst. Es gehörte zu den unbedeutenden historischen Details, die man in der Highschool lernte und prompt wieder vergaß. War »Übersee« nicht sogar eines der Gedichte in meinem Literaturexamen gewesen? Vergleichen Sie es mit »Dulce et Decorum Est« und arbeiten Sie die Unterschiede heraus!? Also konnte ich die letzte Nacht ja schlecht in den Armen des Dichters verbracht haben.
    Vielleicht in denen seines Urgroßneffen. Aber nicht in seinen.
    Immerhin hatten wir heute Vormittag Telefonsex gehabt.
    Im Versuch, sich abzulenken, wanderte mein Blick ziellos durch den Raum und traf auf den Briefbogen neben dem Bett, wo ich ihn heute Morgen hingeworfen hatte. Schon aus einiger Entfernung konnte ich Julians elegant geschwungene Handschrift in schwarzer Tinte erkennen. Seine ziemlich ungewöhnliche Handschrift. Einige hätten sie als altmodisch bezeichnet.
    Ganz langsam bückte ich mich, um den Brief aufzuheben. Dann setzte ich mich aufs Bett und blätterte Dr. Hollanders Buch bis zum Fototeil in der Mitte durch. Dabei versuchte ich, nicht auf die Gesichter zu achten, denn ich wollte nicht unbedingt wissen, wie diese Florence Hamilton ausgesehen hatte. Zweifellos war sie eine Schönheit gewesen. Etwa zwanzig glänzende weiße Seiten waren mit Abbildungen bedeckt – Porträtaufnahmen, Schnappschüsse, Zeitungsausschnitte. All die gegenständlichen Hinterlassenschaften aus dem Leben eines berühmten Mannes.
    Und dann, auf der letzten Seite, stieß ich auf das Gesuchte – das Faksimile eines Briefes. Ich studierte die Bildunterschrift. Brief von Ashford an Lady Chesterton, 25. März 1916, vor dem Aufbruch zur Patrouille. Ashfords letztes überliefertes Schreiben.
    Wegen meiner zitternden Finger fiel es mir schwer, den Briefbogen ruhig neben die Seite zu halten. Als es mir schließlich gelang, schaute ich zwischen der eleganten Handschrift auf dem Brief und der des Schreibens an Lady Chesterton hin und her.
    Im ersten Moment war ich erleichtert. Die Handschriften ähnelten sich zwar, waren aber nicht identisch. Die ältere wirkte weniger ausgefeilt und unbeholfener, so wie die eines Zwölfjährigen.
    Doch je genauer ich hinsah, desto mulmiger wurde mir. Beide Handschriften hatten dieselbe Dicke und dieselbe Strichrichtung. Außerdem war in beiden Fällen gleich stark aufgedrückt worden, und die Buchstaben neigten sich beide in einem ungewöhnlichen Winkel zur Seite.
    Offenbar waren die Schreiber Linkshänder.
    Einige Buchstaben – das f, das y und das große I – sahen genau gleich aus.
    Als wäre der Verfasser meines Briefs eine erwachsene Version des Mannes im Buch. Oder vielleicht jemand, der inzwischen seit zwölf Jahren mit der linken Hand schrieb, anstatt es gerade erst zu lernen, nachdem er sich, nur so zum Beispiel, schwer am rechten Arm verletzt hatte.
    Ich ließ Buch und Brief fallen, stürzte ins Bad und erbrach mich in die Toilette.

13
    A ls Julian aus New York zurückkam, saß ich auf der Steinmauer, an derselben Stelle wie am Vorabend.
    Heute Abend war es kühler als gestern, weshalb ich eine meiner neuen Jeans und dazu Julians Kaschmirpullover trug, den er mir gestern über die Schultern gelegt hatte. Während ich an dem Pullover schnupperte, beobachtete ich, wie die Sonne am Horizont unterging, und wünschte, ich könnte die Uhr um genau vierundzwanzig Stunden zurückdrehen.
    Ich hörte, wie der Maserati in die Auffahrt einbog. Der leistungsstarke

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