Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
anfing, E-Mails an Julian zu schicken.
Liebling. Wenn ich die Augen schloss, sah ich das Wort auf dem Display des BlackBerry noch vor mir, und ich wusste, dass er es ernst meinte. Nun gehörte er ganz und gar mir. Florence Hamilton war schon lange tot. Selbst in seinem eigenen zerrissenen Leben hatte er sie seit zwölf Jahren nicht gesehen. Warum also versetzte mir dieses Foto, das die beiden in ihrer untergegangenen sepiabraunen Welt zeigte, einen solchen Stich? Weil sie zu seiner Zeit gehörte? Aus seinen gesellschaftlichen Kreisen stammte? Das berühmte Gedicht ihr gewidmet war? Der Frau, die er hätte heiraten sollen, wenn er, wie durch ein Wunder, den Krieg überlebt hätte.
Nach einem weiteren Blick auf das Buch sah ich auf die Uhr. Zwölf Uhr Mittag. Noch genug Zeit.
Ich griff nach meiner Tasche und den Schlüsseln zum Range Rover und ging zur Tür.
Die Fahrt nach Newport dauerte eine knappe Stunde, vorbei an der von grünem Schilf bewachsenen Küste von Connecticut und am Ufer von Rhode Island entlang, wo sich der Long Island Sound in den gewaltigen Atlantik ergießt. Es war ein wunderschöner Tag. Die Mittagssonne spiegelte sich funkelnd im bewegten Wasser, und ein jungfräulich blauer Himmel ließ die strahlend weißen Segel im Hafen noch klarer hervortreten. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, Julian wäre hier bei mir und wir wären auf dem Weg in ein romantisches Wochenende in einem der alten Hotels dieser Stadt.
Ich spürte, wie meine Laune sich besserte, als ich mich, den GPS-Anweisungen folgend, durch die engen Straßen schlängelte. Die Aussicht, etwas Sinnvolleres zu tun, als einzukaufen oder den ganzen Tag in Julians Bibliothek Däumchen zu drehen, erfüllte mich beinahe mit Euphorie.
Meine Hochstimmung trug mich die Haupteinkaufsstraße entlang, wo ich sofort einen Parkplatz fand. Es war erst Donnerstag, und Newport war eine typische Wochenendstadt. Raschen, federnden Schrittes ging ich zu dem Laden . The Pearl Fisher stand in eingeschnitzten pseudoantiken und vergoldeten Buchstaben auf dem ovalen Holzschild. Bücher An- und Verkauf hieß es darunter. Das in der salzigen, vom Wasser heranwehenden Brise schwankende Schild knarzte wie eine Schiffstakelage. Gerade wollte ich mein Buch aus der Tasche kramen, als mein Telefon läutete.
»Hallo«, meldete ich mich. »Du wirst nie erraten, wo ich gerade bin.«
Kurzes Schweigen. »Dann sag es mir.«
»Newport. Es ist wirklich hübsch. Du hast recht, wir sollten mal ein Wochenende hier verbringen.«
»Du bist in Newport? Warum zum Teufel?«
»Der Buchladen, der mir die Biographie geschickt hat. Ich dachte, ich mache mich nützlich. Im Moment stehe ich genau davor. Soll ich dir etwas mitbringen?«
»Gütiger Himmel, der Buchladen? Soll das ein Scherz sein? Bist du etwa allein?«
»Ja, allein. Was stört dich daran? Ich bin ein großes Mädchen.«
»Was für ein idiotischer Leichtsinn! Warum hast du nicht auf mich gewartet? Was, wenn der Kerl dort Stammkunde ist? Und dir dann nach Hause folgt?«
»Bitte!«
»Glaubst du, ich mache Witze? Hättest du es mir nicht wenigstens zuerst sagen können?«
»Was, muss ich dich um Erlaubnis fragen?«
»Du nimmst die Sache nicht ernst, stimmt’s? Wie ich dir bereits erklärt habe, versuche ich dich zu beschützen, Kate. Ich dachte, ich hätte mich, was die Gefahren angeht, klar genug ausgedrückt …«
»Bist du mir etwa böse?«, fragte ich ungläubig. »Denn in diesem Fall, tja, Pech gehabt. Schließlich hast du mir vorgeschlagen, aus dem Haus zu gehen, oder?«
»Aber doch nicht nach Newport, Kate!«
»Einkaufen und mir die Nägel machen lassen darf ich also. Doch wenn ich etwas Nützliches unternehme, ist es schlecht und gefährlich? Willst du mir auch verbieten, den Bundesstaat zu verlassen? Oder machst du dir Sorgen um dein Auto …«
»Das Auto tut hier nichts zur Sache, verdammt. Es gehört dir. Ich mache mir mehr Sorgen um dein Leben.«
»Mein Leben? Spinnst du?« Ich bemühte mich um ein ironisches Auflachen. »Es wird mich doch niemand in einem Buchladen in Newport umlegen.«
Als er schwieg, entstand eine lange Pause. »Hör zu«, meinte er schließlich, und seine Stimme klang so angespannt wie ein festgezurrtes Tau. »Ich habe momentan ziemlich viel um die Ohren und hätte mich nur gefreut, wenn du es mir vorher erzählt hättest, mehr nicht. Gibst du mir Bescheid, wenn du dort fertig bist?«
»Ich schicke dir eine Mail«, entgegnete ich. »Ich will dich ja nicht stören.«
»Jetzt
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