Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
entgegen. Wieder wurde mir bewusst, wie seltsam die Situation war. Ich schrieb E-Mails an Captain Julian Ashford, den anerkannten Verfasser von Kriegsgedichten und Autor von »Übersee«. Über die Fuchsjagd und Gamaschen.
Julian Ashford, mein Geliebter.
Heute Morgen nach dem Duschen hatte ich das Buch gefunden. Offenbar war es irgendwann vom Nachttisch gefallen und unters Bett gerutscht. Nun lugte eine Ecke verlockend aus der Dunkelheit hervor. Anfangs achtete ich nicht darauf, machte das Bett und schüttelte besonders sorgfältig die Kissen auf. Doch irgendwann konnte ich nicht mehr widerstehen. Ich hob es auf, nahm es mit in die Bibliothek und strich eine Weile mit dem Daumen über den Einband.
Die Lektüre war leichter als erwartet. Schließlich handelte es sich um eine Biographie, so dass Julian nicht lebensgroß aus dem Dickicht aus Passivkonstruktionen und vagen Schachtelsätzen hervorsprang. Zum Glück blieb er auf Armeslänge entfernt und eine distanzierte historische Gestalt. Keine sensationellen Enthüllungen, kein Hinweis auf Misshandlungen oder seltsame ödipale Anwandlungen. Das Einzige, was mir ins Auge stach, war ein unersättliches Bedürfnis, sich in allen Dingen hervorzutun, so als ob Perfektion lebenswichtig für ihn gewesen wäre. In Eton hatte er alle erdenklichen schulischen und sportlichen Auszeichnungen erworben und das Offiziers-Ausbildungscorps der Schule als Hauptfeldwebel geleitet. 1913 hatte er das Mathematikstudium in Cambridge aufgenommen und sich wie ein Besessener in Studentenzeitungen, Debattierclubs und Sportmannschaften engagiert. Bei Ausbruch des Kriegs im folgenden Jahr war er voller Tatendrang als Lieutenant in den Royal Welch Fusiliers eingetreten und einige Monate später an die Front geschickt worden.
Woher kam es? Elterlicher Druck oder innere Getriebenheit? Ich tippte auf beides. Ein Einzelkind mit enormen angeborenen Begabungen, dazu erzogen, seinen Platz in der Heldengalerie einzunehmen. Sicher war es nicht leicht gewesen, das Gewicht dieser überlebensgroßen Erwartungen zu tragen, und man musste ihm zugutehalten, dass er sich dieser Herausforderung mit Würde und natürlicher Bescheidenheit gestellt hatte.
All das sorgte für eine spannende Lektüre, die mir so manchen Einblick eröffnete und mir Julian sogar noch mehr ans Herz wachsen ließ. Ärgerlich war nur, dass immer wieder Florence Hamiltons Name fiel. Ich versuchte zwar, diese Seiten zu überspringen, doch es war nicht möglich, sie alle auszulassen. Meine Augen wurden magisch von gewissen Passagen und Wörtern angezogen.
»Obwohl Hamiltons Tagebuch in dieser Hinsicht merkwürdig und untypisch vage ist«, schrieb Hollander auf Seite 302, »wird doch deutlich, dass ihre Beziehung während seines letzten Heimaturlaubs einen Höhepunkt erreicht haben muss. Ihr nächster Brief an Ashford, abgeschickt am 12. Februar, strotzt vor Anspielungen auf dieses Ereignis, was immer es auch gewesen sein mag. ›Ich habe nie geglaubt, dass es zwischen zwei Menschen eine solche Glückseligkeit geben kann‹, schreibt sie verzückt. ›Ich kann nur hoffen, dass Du es ebenso empfunden hast wie ich. Deine Worte waren wie immer sehr ausweichend. Wie hat dieser grässliche Krieg Dich verändert!‹ Seine Antwort ist leider nicht erhalten geblieben.«
Ich hingegen konnte mir gut vorstellen, was in dem Brief gestanden hatte. Er hatte es ja selbst zugegeben. Ja. Eine. Während des Kriegs. Höhepunkt, schon gut.
Ich blätterte zum Fototeil, der mir größeren Spaß machte. Hier war Julian als hinreißend engelhaftes Baby. Als verschmitztes blondes Kleinkind während irgendeines Urlaubs in der Schweiz mit seinen Eltern. In Eton als junger Soldat. Mit Zylinder in Ascot, und das tatsächlich neben Winston Churchill. Ein anderes Foto war mit »Juni 1913« überschrieben: »In Henley mit Hamilton und ihrem Bruder Arthur, nachdem sein Achter den Sieg gegen Oxford errungen hatte.« Die Aufnahme zeigte Julian unglaublich jungenhaft, attraktiv und lachend im Gespräch mit einer ausgesprochen hübschen jungen weißgekleideten Frau. Sie war zierlich und elegant, reichte ihm kaum bis zur Schulter und erinnerte an eine kostbare Porzellanpuppe. Eine Hand hatte sie auf seinen Arm gelegt, sein Kopf war aufmerksam in ihre Richtung geneigt. Auf Julians anderer Seite stand ein Mann und beobachtete die beiden mit amüsierter Miene – Florence’ Bruder. Offenbar war er einverstanden.
Das war der Moment, in dem ich das Buch zornig zuknallte und
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