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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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dieses Land, weißt du“, sagte Synne. „Henny Badonin war eine der ganz wenigen Künstlerinnen, die den Zauber verstehen und einfangen und ausdrücken können, so wie ich ihn empfinde. Das ist schwer zu erklären. Mit Worten geht das kaum, aber Henny mit ihrer Rötel- oder Pastellkreide und ihren Kohlestiften, die konnte es. In ihren Bildern ist Ruhe und Bewegung zugleich. Der Wind, die Leichtigkeit, die Sehnsucht, das Drängen. Die Schwalben: wenn sie Schwalben malte, flog man mit ihnen, spürte den Wind, hörte sie zwitschern. Die Farben sind so unaufdringlich, zart, gar nicht da manchmal, und doch ist da immer so eine leuchtende Lebendigkeit.“ Synnes Hände malten Bogen in die Luft, als könnte sie dort die Worte fischen, die sie suchte. „Und ihre Bilder hören nicht auf, sind nie geschlossen, sondern haben weiche Ränder, so, als würden sie im Dunst verlaufen und man bräuchte nur einen Schritt zu tun, um den Rest zu sehen, um mitten drin zu stehen. Da ist Platz, da ist wirkliche Weite. Ihre Motive sind so echt, als könnte man sie anfassen, und doch liegt immer ein Traum darüber und ein wenig Einsamkeit. Ich wüsste auch schon, wo ich so ein Bild aufhängen würde.“ Synnes Augen blitzten noch fjordblauer als sonst.
    „Ich werde Thore fragen, bestimmt kannst du eins haben“, sagte Carly, ein wenig benommen von so viel Begeisterung und sehr neugierig geworden. „Und ich freue mich, wenn du mich besuchst, und wenn deine Chefin die Bilder schätzen könnte. Vielleicht auch ein paar Sachen von Joram Grafunder. Aber bitte lass mir noch ein paar Tage Zeit, um mich zurechtzufinden, ja? Ich melde mich. Und vielen Dank für all die Informationen!“

    Carly wunderte sich über sich selbst. Fast ging es ihr wie Henny: eigentlich wollte sie nicht, dass jemand das Haus betrat. Nicht ehe sie alles gesehen, alle Zettel gefunden und gelesen hatte. Dabei war Synne ein Glücksfall. Schließlich war es Carlys Job, das Haus zum Verkauf vorzubereiten, den Inhalt schätzen zu lassen. Wer konnte ihr dabei besser helfen als diese nette Zufallsbekanntschaft, die fach- und ortskundig war und obendrein die nötigen Kontakte besaß!
    Und doch hatte Carly diesen Impuls, Hennys Bilder beschützen zu müssen.
    Kopfschüttelnd stieg sie auf das Fahrrad. Bevor sie abbog, zögerte sie, sah hinüber zu den Kiefern am Deich, hinter dem das Meer flüsterte, rauschte, rief.
    Aber noch war sie nicht so weit. Während sie die Straße hinauf radelte, fiel ihr ein, wie sie früher einmal ein Bild von einem Segelschiff an die Wand über ihr Bett geheftet hatte, einem wunderschönen Windjammer, dessen unzählige Segel sich großartig im Wind bauschten. Tante Alissa hatte es sofort abgenommen und durch ein Museumsplakat ersetzt, auf dem ägyptische Pferde einen Streitwagen zogen.
    „Mädchen mögen doch Pferde!“, hatte sie fast flehentlich gesagt. Und Carly hatte das Abenteuerbuch über einen Jungen, der als blinder Passagier auf einem Segelschiff unterwegs war, noch tiefer unter den alten Winterpullovern im untersten Schrankfach versteckt.
    Was Henny wohl alles gemalt hatte? Ob es unter den Bildern auch eines von einem Segelschiff gab? Vielleicht würde Thore es ihr verkaufen, als Andenken an diesen Sommer. Carly trat in die Pedale. Als sie das Fahrrad durch die Gartenpforte schob, blieb der Henkel ihrer Einkaufstüte an einem abstehenden Treibholzast hängen. Eine Zitrone flog heraus und rollte ins ungeschnittene hohe Gras am Feldsteinwall. Als Carly sich auf die Suche danach machte, stieß sie sich den Zeh an etwas Hartem.
    „Autsch!“
    Sie ertastete Eckiges, zog schließlich ein großes Holzbrett hervor, an dem kurze rostige Ketten hingen. Unter Spinnweben und Mooskrümeln entdeckte sie geschnitzte Buchstaben mit Spuren weißer Farbe. Mit beiden Händen zerrte sie an dem schweren Holz, aber die Graswurzeln und feuchte Erde wollten das eine Ende nicht freigeben.
    „Kann ich helfen?“, fragte eine freundliche Bassstimme.
    Carly zuckte zusammen; da bückte sich schon jemand und hob das Brett auf.
    „Ich bin Jakob Hellmond, der Nachbar“, sagte der zu der Stimme gehörige Mann, zu dem Carly weit aufsehen musste. Er lächelte sie aus einem gepflegten schwarzen Bart heraus an, in dem Silber schimmerte. Seine Augen waren von einem tiefen Karamellbonbonbraun und er trug eine Kapitänsmütze. Wunderbar. Genau so hatte sie sich einen Kapitän immer vorgestellt, auch wenn dieser keinen Windjammer über die Ozeane, sondern ein Touristenboot

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