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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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abgestellt, ließ ihr die Sache keine Ruhe mehr. Hatte er Henny wirklich eiskalt verlassen, nach allem was an Wärme in seinen Briefen und Nachrichten stand und in seinen Werken zu spüren war? Das konnte, das durfte nicht sein.

    Der Weg über die Wiesen war noch märchenhafter, als Daniel ihn beschrieben hatte. Wolkige Mengen von Pusteblumenköpfen schwebten über dem hohen Gras, in das der Wind zärtliche Wellen zeichnete. In der Ferne bewegten sich braune Segel wie riesige Schmetterlinge auf dem Bodden. Einmal stieg Carly ab, um auf die bodenlose Stille zu lauschen. Eine solch uneingeschränkte Ruhe war ihr noch nie begegnet. Diese Stille war wie ein anderes Meer, gewaltig und beglückend.
    Zu kurz war der Bogen, den der Weg zum Hafen hin beschrieb. Carly hätte für immer so weiterfahren können. Doch bald verschluckte für einen Wimpernschlag ein hoher Schilfgürtel die Sicht, dann tauchten wie aus einem Bild Bootsstege in einer kleinen Bucht auf, dahinter Reihen hölzerner Häuschen. Zwei Zeesboote schaukelten an einem Steg, an einem anderen ein Ruderboot. Niemand war zu sehen bis auf einen Mann, der am Ende eines Steges auf einem Pfosten saß und mit den Beinen baumelte. Carlys Schritte warfen eine Melodie hölzerner Klänge in die Abendstille, als sie sich ihm näherte. Er drehte sich nicht um, aber sie musste auf der richtigen Spur sein, denn plötzlich trat sie auf ein großes K, das jemand mit Kreide auf das Holz geschrieben hatte. Dieses K war das Ende eines Wortes, das Carly als „Nebelbank“ entzifferte.
    Der Horizont, auf den der Steg zuführte und auf den der Mann blickte, leuchtete glasklar, nur ein aprikosenfarbiger Strich lag auf dem Blau. Von Nebel war weit und breit nichts zu sehen.
    Der Mann trug einen ärmellosen blaugrünen Strickpullover und eine lederne Schirmmütze. Hinter seinem großzügigen Ohr steckte ein Stück Kreide.
    „Guten Tag, Herr Flömer.“
    Als er sich zu ihr wandte, sah sie erst, dass er tatsächlich sehr alt war. Für seine Augen aber galt das nicht.
    „Das ‚Herr’ ist nicht nötig“, sagte er. „Alles nur Ballast.“
    Carly zeigte auf das Wort, das auf dem Steg lag.
    „Warum ‚Nebelbank’?“
    „Es ist das Wort, das heute meine Gedanken eingeladen hat. Nebelbank. Es klingt wie etwas, auf dem man sich niederlassen kann. Etwas Weiches, Veränderliches, Geheimnisvolles. Es kann freundlich sein, aber auch gefährlich. Man kann sich darin verlieren. Oder darauf unterwegs sein. Eine Bank, die sich der Landschaft anpasst und dem darauf Ruhenden. Eine, die nicht greifbar ist. Nicht dauerhaft. Eine, die vom Wind abhängig ist. Ich mag es, ein Wort in der Landschaft zu notieren, so dass wir uns Auge in Auge gegenüberstehen können und uns gegenseitig betrachten.“
    „Darf ich auch mal?“ Carly zeigte auf die Kreide hinter seinem Ohr.
    „Selbstverständlich. An den Rändern der Meere ist Platz für alle Wörter.“ Er reichte ihr die Kreide.
    „Seesack“, schrieb Carly auf das von vielen Schritten ausgetretene Holz.
    Sie gab Flömer die Kreide zurück und setzte sich ihm gegenüber auf den anderen Pfosten.
    „Seesack“, sagte sie vor sich hin, versuchte, sich Flömers Denkweise zu Hilfe zu nehmen. „Flüchtiger als ein Koffer. Etwas, das größer oder kleiner wirkt, je nachdem wie viel man hinein füllt. Leicht oder schwer. Es ist immer noch ein bisschen Platz, egal wie vollgestopft er ist. Platz für Holzstücke und Werkzeuge. Platz für Erinnerungen, Platz für den Klang der See, Platz für Ideen und Wissen und für Sehnsucht. Sehnsucht nach der Ferne, nach Wind. Sehnsucht nach jemandem, den man verloren hat. Sehnsucht nach jemandem, den man zu gerne hat um ihm nahe zu bleiben.“
    „Meinst du Joram Grafunder? Woher kennst du ihn so gut?“
    Dass er sie duzte, erinnerte sie an Thore.
    Flömer war ein guter Zuhörer. Sie erzählte ihm die ganze Geschichte, von Naurulokki, Jorams Zetteln und Möbeln und auch von dem Seesack, den man ihr heute anvertraut hatte.
    „Ich mag nicht hinein sehen, irgendwie gehört sich das nicht. Obwohl schon ein Polizist und ganz bestimmt diese Frau Rubinger darin herumgewühlt haben.“
    „Das scheint auch nicht nötig zu sein. Du weißt offensichtlich, was darin ist. Die Bohlen für den Schreibtisch, den du erwähntest, hatte er übrigens mir abgeschwatzt. Sie stammen von meinem alten Bootssteg.“
    „Wie lange kanntest du ihn?“
    „Er ist schon als Junge mit seinem Bruder mit mir zum Fischen hinausgefahren. Sie hingen sehr

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