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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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Tag, der in ihr lebendig war wie gestern. Henny fasste nach dem Schiff in der Tasche ihres langen Baumwollkleides, dessen Saum nass geworden war. Sie hielt den Bernstein gegen die tiefstehende Sonne. Darin schimmerte jener alte Tag für sie ungebrochen golden, flüsterte Nicholas’ Stimme zärtlich in ihr Ohr, spürte sie seine Hand warm um ihre. Dort leuchteten ihre alten Träume.
    Sie hatte viele davon wahrgemacht, auch ohne Nicholas. Sein Verrat hatte ihr das Licht nicht genommen, nur anders gefärbt. Sie hatte Zeit für ihre Kunst gehabt und Mengen von Bildern gemalt, die besser und tiefer waren als alles, was sie damals für möglich gehalten hatte. Sie konnte ungestört wohnen und unterwegs sein in ihren Bildern, ihrer Landschaft und ihrem Zuhause.
    Und sie liebte wieder.
    Das Silber spiegelte das Licht und ließ Funken über Hennys Arm hüpfen. Der stille, zeitlose Wind, der die Segel unternehmungslustig blähte, hatte nicht nachgelassen, nicht in all den sechsundvierzig Jahren.
    Henny steckte das Schiff zurück in ihre Tasche, ging gedankenverloren weiter. Sie genoss das kalte Wasser an ihren Knöcheln, den Sand, der sich mit jedem Schritt ihrer Sohle anpasste.
    Jäh fuhr sie zusammen, als eine Hand sich von hinten kaum merkbar auf ihre Schulter legte.
    „Frage ihn! Wir haben alle nicht ewig Zeit. Die Tage sind kostbar!“, raunte eine Männerstimme in ihr Ohr.
    Henny fuhr herum und sah einen leeren Strand. Nur weit hinten, am „Windflüchterhaus“ lief ein Pärchen, so fern, dass sie kaum größer als Möwen wirkten.
    Sie spürte, wie sich die Haare an ihren Armen aufrichteten. An jenem Tag, den sie gerade aus ihrer Erinnerung heraufbeschworen hatte, war dasselbe geschehen. Sie hatte eine unsichtbare Hand auf ihrer Schulter gespürt, die sie anhalten hieß. Die Worte des alten Oskar kamen ihr in den Sinn.
    „Es war der Sturmflut-Claas ...“
    Henny erholte sich allmählich von ihrem Schreck. War der Sturmflut-Claas doch kein Kind des Grogs, den Oskar an kalten Abenden getrunken hatte? Er war nicht der Einzige, der dieser rätselhaften Gestalt begegnet war. Viele hatten erzählt, er hätte sie vor schlimmen Fluten gewarnt oder vor anderen Gefahren.
    Henny kniff die Augen zusammen, betrachtete forschend den Himmel. Nein, nach einem Wetterumschwung sah es nicht aus. Sie kannte die scheinbar harmlosen Wolken, die die ersten Vorboten eines Herbststurms waren.
    Aber auch das Leben selbst konnte von einer Sturmflut heimgesucht werden, und das ganz ohne vorherige Wolken.
    Konnte der Claas also Gedanken lesen? Woher wusste er, dass sie Joram eine Frage stellen wollte, sich aber nicht traute? Nun, wenn man schon seit über hundert Jahren spukte, musste man wohl viele Lieben kommen und gehen gesehen haben ...
    „Und wenn ich ihn damit ganz in die Flucht schlage?“, fragte sie laut in den Wind hinein.
    „Die Tage sind so kostbar ...“ Sie wusste nicht, ob der Wind die Worte von der See zu ihr hingetragen hatte oder ob sie nur in ihrem Denken widerhallten.

    Jetzt saß sie im Abendlicht auf den Stufen von Naurulokki und sah Joram entgegen, der durch das Gartentor kam. Zärtlich betrachtete sie ihn, seine vertraute behutsame Bewegung, mit der er den Riegel am Tor schloss, sein leicht hinkender Gang, weil er Arthrose im rechten Knie hatte. Er war wetterfühlig, besonders im Herbst und Winter. Henny mochte seine abgetragene Strickjacke und das Weiß, das wie edler Raureif seinen dichten Bart säumte. Und seine Augen, dachte sie, als er näherkam und sein Blick den ihren traf. Wie konnte der Blick eines so ruhelosen Mannes bewirken, dass sie sich dermaßen geborgen, ruhig und zuhause fühlte? Sie waren groß und voller Licht und Märchen, diese Augen, und er wusste es nicht einmal.

    Sie waren sich so vertraut, dass sie schon längst nicht mehr aus Höflichkeit aufstand, um ihn zu begrüßen. Er blieb vor ihr stehen, stellte einen Fuß auf die Stufen um sein Knie zu entlasten und reichte ihr etwas.
    „Ich fand das Holz gestern ganz weit draußen auf der Kirr und dachte sofort an dich.“
    Henny betrachtete die Figur, die er in ihre Hände gelegt hatte.
    Es war ein von Wind und Wellen geschliffenes Stück Ast, hell mit dunkler Zeichnung, so lang wie Hennys Unterarm. Eindeutig eine Frau mit Kleid und Umhang. Sie stand aufrecht, blickte in den Himmel. Elegant war sie, ein klein wenig gebeugt wie gegen den Wind. Joram hatte nur ganz wenig daran verändert, eine kleine Einkerbung hier, ein ergänzender Strich

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