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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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aneinander, die beiden. Ich kannte Joram lange, aber niemand kannte ihn gut.“
    „Außer Henny Badonin. Aber auch ihr hat er nicht gesagt, warum er ging und nicht wiederkam. Was glaubst du, wo er ist? Lebt er noch?“
    Flömer schwieg eine Weile. Eigentlich hätte eine Pfeife zu ihm gepasst, dachte Carly. Aber seine Hände lagen ruhig auf seinen Knien.
    „Ich weiß es nicht“, sagte er schließlich. „Ich kann es nicht fühlen, weil Joram jemand ist oder war, der ohnehin in der Landschaft bleibt. Er ist in jedem Stück Holz, das mir begegnet. In jedem seltsamen Gedanken, der mich trifft. Seine Worte sind im Nordwind unterwegs. Für mich ist er nicht fort. Nach beinahe neunzig Jahren ist dieser Ort für mich voll von Menschen, die nicht fort sind, auch wenn sie niemand mehr sieht außer mir. Es ist nicht wichtig, wer davon lebt und wer nicht.“
    Hatte sie nicht Ähnliches kürzlich schon einmal gehört? Es musste an diesem Land liegen, dass die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten für einige wie selbstverständlich verschwamm. Wie in dem Tümpel im Wald mit den goldenen Blättern.
    Der aprikosenfarbige Strich am Horizont war verschwunden. In hohen und tieferen Blautönen senkte sich die Dämmerung in die Bucht. An den Stegen flammten einzelne Lichter auf, spiegelten sich zitternd im Wasser.
    Carly angelte sich noch einmal die Kreide hinter Flömers Ohr hervor.
    „Joram Grafunder“, schrieb sie auf den Steg. Das Holz war in der aufkommenden Dunkelheit kaum noch zu sehen. Die weißen Buchstaben schienen in der Luft zu schweben.
    „Welches Wort fällt dir dazu als Erstes ein?“, fragte sie.
    „Strömung“, schrieb Flömer darunter. „Joram war einer, der ständig von einer Strömung gezogen oder getrieben wurde. Darum konnte er nie ankommen. Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass es auch an Land Strömungen gibt. Alles hängt mit den Strömungen zusammen. Sie kommen von dort, in der Luft und im Wasser“, er breitete beide Arme weit zum Meer hin, „und sie machen an Land nicht Halt. In der Dämmerung erkennst du es am ehesten, dann gibt es nur noch die Blautöne, auch an Land. Und irgendwann fließen sie wieder zurück. Am Ende“, sagte Flömer, „am Ende läuft alles auf dieses Blau hinaus. Darin kannst du alles verlieren und alles finden.“ Er zeichnete den hellblauen Streifen am Horizont, das letzte Echo dieses Spätsommertages mit dem Zeigefinger nach.
    Gemeinsam sahen sie zu, wie die Nacht sich darüber legte.
    „Wer war Nicholas?“, fragte Carly in die Dunkelheit.
    „Nicholas ... Er war mit Henny verlobt, aber er verschwand vor der Hochzeit.“
    „Aber warum? Er war auch Künstler, nicht? Ich habe ein Bild auf dem Dachboden eines Henning Weritz gefunden. Es zeigt Henny und ist mit Nicholas Ronning signiert.“
    „Henny mit den drei Schiffen? Das ist das Bild, für das Nicholas den dritten Preis auf der Sommerausstellung im Kunstkaten bekam. Er hat es nie abgeholt. Es war der Tag, an dem er verschwand. Der alte Otto Weritz war damals der Galerist. Er hat das Bild vermutlich aufgehoben, weil er dachte, Nicholas kommt eines Tages zurück. Es gehörte ja ihm.“
    „Aber warum ging er? Oder ist er verschwunden – vermisst – wie Joram?“
    „Nein, er lebt in Amerika.“ Flömer räusperte sich. „Er wird seine Gründe gehabt haben. Henny hatte etwas, was nicht alle Menschen haben. Etwas Klares, Strahlendes. Und manche stehen nicht gern im Schatten.“

    Die Milchstraße leuchtete hell über Naurulokki, als Carly ihr Rad durch die Pforte schob. Sie war auf der Hauptstraße zurückgefahren, die lautlosen Wiesen waren ihr im Dunkeln zu unheimlich, vor allem nach Flömers Worten von den Menschen, die nicht fort waren.
    Gedankenverloren starrte sie in den fast leeren Kühlschrank, als es an der Tür klopfte. Sie zuckte zusammen. Wer konnte das jetzt noch sein? Jakob? Den hatte sie heute nicht einmal von Weitem gesehen. Sie hatte ihn vermisst, fiel ihr auf.
    Doch draußen stand nicht Jakob unter den Sternen.
    Es war ihr korrekter Bruder Ralph, in jeder triumphierend erhobenen Hand ein fettiges, tropfendes Päckchen.
    „Hier gibt es überall Fischbrötchen!“, verkündete er strahlend. Es klang, als hätte er soeben persönlich das achte Weltwunder entdeckt.

Henny
1998

27. Hennys Frage
     

    Es war Frühherbst. Vorhin war sie am Strand gewesen, war barfuß am Wasser entlang gelaufen. Bald würde es zu kalt sein. Die Wellen flüsterten in demselben Ton wie an dem so lange vergangenen

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