Das Meer in deinen Augen
als sie neben ihr in einem der breiten Teakholz-Sessel Platz genommen hatte. Sie sagte es ohne vorgespieltes Mitleid. Und diesmal schmerzte es Emma nicht mehr so sehr. Sie hatte das Gefühl, als ob ein Pflaster ihre offene Wunde endlich schützte.
»Ich hab häufig an dich gedacht und daran, wie du die Zeit wohl durchstehen kannst. Es war bestimmt nicht einfach.«
Emma mochte nicht direkt darauf antworten. »Wie war es, als du Opa verloren hast?«
Es blieb eine Weile still.
»Das war etwas anders. Es kam ja nicht so plötzlich. Wir wussten beide, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Den Tumor konnte man nicht mehr aufhalten. Ein Jahr haben ihm die Ärzte am Anfang gegeben. Irgendwann war das Jahr um. Also mussten wir jeden Tag voneinander Abschied nehmen.« Emma schaute zu ihrer Oma, die den Blick irgendwo Richtung Horizont gerichtet hatte. »Wir haben zwar versucht, jeden Tag als das zu nehmen, was er eigentlich sein sollte. Als ein Geschenk. Trotzdem wurde der Schmerz natürlich größer. Wir waren uns ja bewusst, dass sich der Tod nicht mehr viel Zeit lassen würde. Sogar sein Arzt war am Ende ratlos. Er wusste auch nicht, wie lange es noch dauern würde. Manchmal hab ich natürlich überlegt, ob es vielleicht so etwas wie Wunder gibt. Und irgendwann war es dann einfach so weit. Er ist eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.« Ein nachdenkliches Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie zitterten ganz leicht. »Ich frühstücke immer noch zur selben Zeit, schaue die gleichen Sendungen und gehe sonntags in die Kirche. Ganz als wäre er noch da. Ich weiß nicht, ob es der richtige Weg ist, Emma. Aber ich glaube, dass es irgendwie immer weitergehen muss. Immer weiter.« Sie wurde leiser, während sie den Satz beendete.
»Wenn das so einfach wäre.«
»Natürlich ist es das nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Das wollte ich damit nicht sagen.« Ihre Oma seufzte und schaute zu Emma herüber, bis sie ihren Blick eingefangen hatte. »Du musst viel durchmachen. Erst dein Vater. Jetzt das. Ich hab mich immer gefragt, wie du das schaffst. Du hast eine andere Jugend verdient. Wahrscheinlich helfen dir die Worte deiner Großmutter da nicht besonders viel. Alte Menschen reden gerne, als hätten sie die Welt schon verstanden. Ich sollte besser gar nicht erst damit anfangen.« Sie winkte ab, und ihre Wangen wurden etwas rot.
Emma lächelte. »Sag so was nicht, Oma.«
»Du hast noch so viel Zeit vor dir. Ich weiß genau, dass du daraus noch etwas machen wirst.«
»Hast du etwas von Papa gehört?«, wechselte Emma das Thema.
»Nein. Aber ich habe gestern mit seinem Bruder telefoniert. Er versteht auch nicht mehr, was in Fred gefahren ist.«
»Und Jörg?«
»Die haben tolles Wetter auf Madeira. Er hat mir schöne Fotos geschickt. Den Garten müsstest du mal sehen. Solche Orangen wachsen da.« Sie zeigte mit ihren dünnen Fingern, wie groß die Orangen waren, und lachte. Emma sah ihr an, wie wichtig es ihr war, wenigstens auf einen ihrer Söhne stolz sein zu können.
»Zeig sie mir doch.«
»Die Fotos?«
Emma nickte. Ihre Großmutter kam mit einem Briefumschlag zurück und schob den Stuhl ein Stück zu Emma hin.
»Hier, deine Cousine.« Auf dem Foto sah sie ihre Cousine Annika. Sie spielte mit einem Hund, der an ihr hochsprang. Sie war inzwischen älter geworden. Bestimmt sieben. Warum war Emma nicht in einer Familie aufgewachsen, die so weit weg von dem Rest dieser Welt wohnte? Dort, wo es immer warm ist, wo das Meer immer rauscht. »Hab sie lange nicht gesehen.«
Auf dem nächsten Foto standen Onkel Jörg, seine Frau und Annika Arm in Arm vor den Steilklippen. Der Wind wehte ihnen die Haare ins Gesicht. Sie lachten.
Emma lehnte sich zurück, und Oma merkte, dass sie genug gesehen hatte. Die Bilder kamen wieder. Luka springt, das Meer kommt näher, und alles ist dunkel.
»Willst du hier übernachten?«
Emma nickte stumm.
15
Klimpernde Gläser, raue Stimmen und der Geruch von Rauch und Schweiß – Benjamin tauchte hinter Finn in die dicke Luft der Kneipe ein. Onkelz-Songs dröhnten aus einer übersteuerten Anlage. Alles ist wahr, wir sind wieder da … ja! Wir spritzen Gift und kotzen Galle, Viva los Tioz! Von außen wirkte der Laden klein. Doch es mussten bestimmt hundert Gäste sein, die sich bis zum Eingang drängten. Die Wände waren mit Wimpeln, Schals und alten Trikots geschmückt. Dazwischen fiel Benjamin ein großes Foto hinter Glas auf, schwarz-weiß. R.I.P . Eddie. Immer bei uns , stand in
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