Das Meer in deinen Augen
Blick, drehte sich aber nicht um. Gab er sich etwa die Schuld? Er hätte es doch bestimmt nicht verhindern können. Da war sie sich merkwürdigerweise absolut sicher. Ein steifer Wind hatte eingesetzt. Wahrscheinlich würde es heute noch gewittern. Oben am Himmel tauchte die Sonne noch einmal flüchtig auf, während die Wolken sich langsam zu einer Wand auftürmten, die ein immer tieferes Grau annahm. Als sie schon die Kreuzung erreicht hatte, konnte sie doch nicht anders. Aber die Straßenbahn war verschwunden.
Der kurze Augenkontakt ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Es war die stumme Vertrautheit, die sie deutlich genug gespürt hatte, um festzustellen, dass sich eine Verbindung zwischen ihnen aufgebaut hatte. Dünn und zart, zum Zerreißen gespannt. Aber sie existierte. Alle Bemühungen und Bekundungen – selbst die Lillys oder ihrer Mutter –, sie erreichten Emma nicht auf diese Weise. Benjamin hingegen, den sie nie hatte leiden können, er hatte ohne ein Wort mehr Verständnis bewiesen als alle anderen. Plötzlich wurde ihr so vieles bewusst. Benjamin war es gewesen, der Luka zuletzt gesehen hatte. Niemand anders konnte wissen, ob er noch etwas über sie gesagt hatte. Niemand außer Benjamin konnte ihr all die Fragen beantworten, die offengeblieben waren. Sie wollte jetzt nicht weinen. Doch der Wind ließ ihre Augen tränen und gab ihr keine Chance. Es bedurfte einiger Anstrengung, die Beherrschung wieder zu finden und den Kloß hinunterzuschlucken, der ihr in der Kehle saß, ehe sie vor Lillys Haus trat und klingelte.
»Hi.« Emma war etwas überrascht, als sich die Tür öffnete und Lillys Vater vor ihr stand. Normalerweise arbeitete er um diese Zeit noch.
»Hallo«, entgegnete sie unsicher.
»Lilly ist noch … beim Arzt. Sie müsste jeden Moment zurück sein. Kann sich nur um Minuten handeln.« Er hastete von einem Satz zum nächsten. Auf seinem Gesicht lag ein merkwürdiges Lächeln. Nicht so selbstbewusst wie sonst. Sein Haar war zerzaust und auf seiner Stirn lag ein dünner Schweißfilm. Auch schien er etwas außer Atem zu sein.
»Komm erst mal rein.« Die falsche Fröhlichkeit verschwand nicht.
Fast hätte sie schon einen Fuß über die Schwelle gesetzt, ehe sie es sich noch einmal anders überlegte. Irgendwie war es ihr plötzlich unangenehm, mit ihm alleine zu sein. »Danke. Aber ich komme einfach später wieder.«
»Wirklich? Es macht mir nichts aus. Du kannst in ihrem Zimmer warten.«
»Schon okay.« Emma nickte nachdrücklich und setzte ein Lächeln auf.
»Na gut«, gab er auf. »Ich richte ihr aus, dass du da warst.«
Emma hob zögernd die Hand, um sich zu verabschieden. Sie spürte seinen Blick und beschleunigte ihren Gang. An der Straßenecke sah sie sich noch einmal um. Jetzt erst fiel die Tür ins Schloss.
Während sie an der Haltestelle wartete, musste sie an Benjamin denken. Sie spielte ihre nächste Begegnung in Gedanken durch. Diesmal stand er von seinem Platz auf und kam durch den Waggon langsam auf sie zu. Ob er sich setzen dürfe, fragte er. Sie schwieg ihn an, obwohl sie wusste, dass sie ihm so vieles sagen wollte. Als die Straßenbahn vor ihr hielt, sah sie durch die Fenster hinein und entdeckte niemanden, den sie kannte. Ihre Vorstellung verblasste schnell. Das Handy summte. Es war Lilly.
»Hey«, fing Emma an und legte sich schon eine Erklärung für ihr Verschwinden zurecht. Es gab aber eigentlich keine, die überzeugend war.
»Hör mal«, kam Lilly ihr zuvor. »Du warst schon bei mir?«
»Ja. Ich wollte dir schreiben, aber meine Karte ist leer.«
»Okay«, entgegnete ihre Freundin zögerlich.
»Was ist denn los?«
»Alles in Ordnung«, spielte Lilly die Gelassene. »Ich wohne nur nicht mehr bei meinem Vater. Bin gerade abgehauen. Wir müssen uns knapp verpasst haben.«
»Was?«, entfuhr es Emma. Rasch sah sie sich um. Niemand schien ihren überraschten Ausruf bemerkt zu haben. Eine alte Frau mit Hörgerät schaute weiter friedlich zum Fenster hinaus. Der Typ hinter ihr wippte leicht zu den Beats, die aus seinem Kopfhörer drangen.
»Ich bin ausgezogen. Gerade eben. Wieder zu Mama«, erklärte Lilly und wollte es wohl selbstbewusst klingen lassen. Ein leiser Seufzer entfuhr ihr trotzdem.
»Was ist passiert?«
»Mein Vater. Er hat seine Freundin … na ja.« Lilly holte tief Luft. »Er hat sie geschlagen. Mich hat er angeschrien, als ich ihr helfen wollte. Er ist total durchgedreht. Verrückt. Scheiße. Ich habe gerade meine Sachen geholt. Gut, dass du schon
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