Das Meer in deinen Augen
weg warst.« Ihre Stimme entglitt ihr endgültig.
»Wann ist das passiert?«
»Heute Morgen.«
»Soll ich zu dir kommen?«
»Wo bist du gerade?«
»Ich … ich weiß nicht genau.« Emma blickte hinaus und sah die tristen Vorortsiedlungen auftauchen. Sie hatte vergessen auszusteigen.
»Was meinst du?«
»Hast du morgen Zeit?«, wich sie aus. Emma platzte der Kopf ohnehin schon wegen der Begegnung mit Benjamin. Sie konnte sich jetzt nicht auch noch mit Lillys Problemen beschäftigen. Emma erschrak selbst über ihre Gefühlskälte. Doch so sehr sie sich bemühte – sie musste feststellen, dass sie im Moment einfach unfähig war, sich um sie zu kümmern. Morgen – wusste sie – würde sie schon eher für ihre Freundin da sein können. Heute packte sie das einfach nicht. »Klar.« Lilly schien enttäuscht. Emma meinte ein leises Schlucken zu vernehmen. »Schon gut. Ich weiß, du hast anderes um die Ohren.« Der Vorwurf war nicht misszuverstehen.
»Soll ich doch lieber jetzt kommen?«, fühlte sie sich verpflichtet zu fragen.
»Nein, nicht nötig«, wehrte Lilly ab.
Emma hatte mit dieser Antwort gerechnet. »Also dann, bis morgen.«
»Ciao.«
Ehe Emma noch etwas sagen konnte, ertönte das Freizeichen. Lilly hatte aufgelegt. Inzwischen erreichte die Straßenbahn ihre Endstation und auch die letzten Fahrgäste stiegen aus.
»Hey, hier ist Ende«, knurrte der Fahrer, der auf seinem Kontrollgang im hinteren Wagen angekommen war, und gab ihr mit einem Wink zu verstehen, dass sie endlich aussteigen sollte. »Hast dich wohl verfahren?«, rief er ihr hinterher, als sie schon ein paar Meter gegangen war. Sie drehte sich nicht um.
Emma hatte ihre Großmutter schon seit Wochen nicht mehr besucht. Zum Geburtstag hatte sie eine Karte bekommen mit einem angehefteten Geldschein. Oma war immer sehr großzügig. Mama glaubte, Emma wüsste es nicht. Aber ohne sie hätten sie sich die Wohnung schon lange nicht mehr leisten können. Sie sprang immer ein, wenn Papa nicht zahlte. Den kleinen Bungalow erreichte man über einen Plattenweg, der durch den Garten führte. Als kleines Kind hatte sie immer versucht, eine Platte zu überspringen. Das war damals gar nicht so einfach gewesen. Emma musste schmunzeln, als sie sich ertappte, wie sie auch diesmal immer eine ausließ. Schon stand sie vor der dunklen Holztür mit der Milchglasscheibe und dem Briefschlitz darunter. Sie drückte den abgewetzten Klingelknopf. Der helle Glockenton war ihr immer noch vertraut. Die alte Frau schaute sie eine Weile an, setzte ihre Brille ab und fing an zu strahlen. »Emma.«
»Hallo, Oma«, grüßte sie und bemühte sich, genauso erfreut zu klingen.
»Komm erst mal rein«, entgegnete ihre Großmutter, nachdem sie Emma einen Moment lang gemustert hatte. Das kleine Haus war hübsch eingerichtet. Ganz anders als bei Mamas Eltern in Paderborn. Ein merkwürdiger Geruch saß dort in den Wänden. Unzählige Teller und Vasen standen in Vitrinenschränken. Hier lebte es sich weniger altmodisch und umso freundlicher. Der ganze Raum war erleuchtet vom Sonnenlicht, das durch die breite Fensterfront hineinfiel. Ein Hauch von Lavendel lag in der Luft. Er wuchs neben Rosen und Rhododendron. Die Bienen schwirrten um seine violetten Blüten herum. Der große Kirschbaum zur Linken und der Flieder zur Rechten gehörten zum gewohnten Anblick wie die Beerensträucher, die entlang dem Gartenzaun gepflanzt waren. Es war die Kombination aus gründlicher Pflege und natürlichem Wuchs der Natur, die dem Garten s einen unverwechselbaren Charme verlieh. Im Wi nter legte sich der Frost über Rasen und Beete und ließ alles glitzern. Alte Erinnerungen kehrten zurück, während Emma durch das Haus streifte. In der Mitte des Wohnzimmers stand ein großer Eichentisch. Ganz schlicht und einfach, ohne Verzierung. Vier Stühle umringten ihn, ganz als würde hier noch eine Familie wohnen.
»Na, erinnerst du dich nicht mehr?« Die alte Frau lachte. Sie hatte bemerkt, dass ihre Enkelin sich umschaute, als wäre sie zum ersten Mal hier.
»Bist du eigentlich nie einsam?«, platzte es aus Emma heraus.
Das Lachen war diesmal eine Spur bitter. »Mich kommt selten jemand besuchen – wie du. Aber es hat auch seine guten Seiten. Ich komme viel zum Lesen. Der Garten braucht mich auch.« Sie ging zum Fenster und öffnete die große Schiebetür zur Terrasse. »Setz dich nach draußen. Ich hol uns etwas zu trinken.«
»Ich habe gehört, dass du jemanden verloren hast, Emma«, fing ihre Oma an,
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