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Das Meer in Gold und Grau

Das Meer in Gold und Grau

Titel: Das Meer in Gold und Grau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Peters
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abzuleisten hatte, und fragte, ob eine Erhöhung meines Taschengelds die Diebstähle unnötig machen könnte. Als mir ein Schulverweis wegen wiederholter Unterschriftenfälschung drohte, identifizierte er mein stümperhaftes Gekrakel ohne Zögern als sein eigenes und bestätigte der staunenden Direktorin, dass all die vergangenen Unterrichtsbefreiungen natürlich von ihm stammten, von wem denn sonst? Unter meinen Klassenkameraden galt ich fortan als die mit dem lässigsten Vater von allen. Allein Manu fand ihn weder locker noch cool, sondern »schlichtweg
nicht normal« und hätte lieber ihn statt meiner zu den von der Schulpsychologin verordneten Therapiesitzungen geschickt. Dass sie meinen Pa trotzdem jederzeit bereitwillig gegen den kontrollsüchtigen Choleriker eingetauscht hätte, unter dessen Tisch sie bis zur Volljährigkeit ihre Füße zu stellen hatte, daran ließ sie keinen Zweifel. Sie hielt meinen Vater für eigenartig und emotional gestört, aber sie mochte ihn, nannte ihn den letzten wahren Melancholiker, sang später eigens eine Version von Don’t explain auf ihr Demoband, um ihm eine Freude zu machen. Von meinem Vater bekam sie zu unseren gemeinsamen Schulzeiten zahlreiche Alibis für Partyabende und Jungs-übernachtungen, Nachhilfe in Deutsch und Englisch, ihre erste Zigarette und alle dreißig Bände von Musik in Geschichte und Gegenwart zum bestandenen Abitur.
    Â»Hans, adoptiere mich!«, sagt sie noch immer, wenn sie ihn trifft, und mein Vater antwortet stets mit der gleichen brummigen Liebenswürdigkeit: »Jederzeit, schaff den Notar herbei!«
    Ich glaube, nicht nur, weil er früh ergraute oder weil er so ruhig und anders war als die anderen Väter habe ich ihn, seit ich denken kann, als alten Mann gesehen: ein einsamer Oberstudienrat, der keine Affären hatte, nicht über seine verschwundene Frau sprach, mit der Gesellschaft seiner Plattensammlung wunschlos zufrieden schien; ein freundlicher Deutschlehrer, der sich bemühte, seine Leistungskursteilnehmer für Thomas Mann oder Kafka zu erwärmen und es weder persönlich noch als Indiz um sich greifender Oberflächlichkeit nahm, wenn das nicht gelang. Vater, Mutter und Bruder in einer Person, war er mir oft ein Fels gewesen, ein geduldiger Zuhörer, der keine Besitzansprüche an niemanden stellte, aber auch nichts von sich preisgab, woran ich mich hätte halten können.

    Â»Was willst du mehr?«, fragten viele, und die Antwort: »Gelegentlich überhaupt etwas!« wäre ungerecht und nicht das gewesen, was die Fragenden hören wollten, also behielt ich sie für mich.
    Wie auch immer, jetzt hockte er unangemeldet neben mir im Frühherbstwind, was ich bislang in mehrfacher Hinsicht nicht für möglich gehalten hätte. Es widersprach so sehr meiner Vorstellung von ihm, dass er sich in irgendetwas einmischte, mir gar nachreiste und mein Schweigen in den vergangenen Monaten anders als ein von ihm zu respektierendes Distanzbedürfnis interpretierte. Er war von seinem Sessel aufgestanden, hatte sich von seiner Musik, seinen Büchern, seiner Einsamkeit wegbewegt und war zu mir gekommen. Er hatte sich über die bewusst verzerrte Spurenlage hinweggesetzt, hatte mich gefunden, war da, still und fraglos, wie es dann doch wieder seiner Art entsprach: Diese abwesende Präsenz, mit der er mich wahnsinnig machen konnte oder in tröstlicher Sicherheit wiegen wie niemand anderes auf der Welt, je nachdem.
    Â»Ich freue mich, dich zu sehen, Katia.«
    Â»Ich freue mich auch, Papa.«
    Â»Ja?«
    Â»Ja.«
    Â»Schön.«
    Und wenn jetzt hinter uns nicht die Tür vom Haus aufgesprungen wäre und sich Schritte genähert hätten, wären mein Vater und ich in der Lage gewesen, den Rest des Nachmittags lang das zu tun, was wir gemeinsam am besten konnten: still sein, rauchen und alles ausblenden.
    Â 
    Ich erkannte sie frühzeitig am Gang, hatte also einen Vorsprung von etwa sieben Sekunden, den ich für nichts als einen
Zug aus Vaters Pfeife nutzte. Sie stand vor uns, bevor ich die Pfeife zurückreichen konnte, schaute von einem zum anderen und ließ kein Zeichen irgendeiner Verwunderung darüber erkennen, dass ich mit einem fremden älteren Herrn Arm in Arm im Strandkorb kuschelte.
    Â»Guten Tag!«, sagte sie und beugte sich leicht zu uns herunter.
    Mein Vater kniff einen winzigen Moment die Augen zusammen, dann

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