Das Meer in seinen Augen (German Edition)
ihn. Sein Körper fühlte sich plötzlich gar nicht mehr so stark und drahtig an, sondern eher zerbrechlich.
»Ich warte hier auf dich«, sagte David, obwohl er den Spruch vollkommen bescheuert fand. Das klang irgendwie, als wären sie schon zehn Jahre zusammen und könnten einfach nicht ohne einander leben, als würden sie sich jetzt für Ewigkeiten verabschieden. Aber genau so fühlte es sich an. David spürte schon jetzt bei dem Gedanken an gleich die Einsamkeit, die in ihn kroch und ihm zuraunte, dass er hier ab sofort niemanden hatte, der hinter ihm stand. Mit dieser Verabschiedung würde er allein auf feindlichem Boden zurückbleiben.
»Bleibst du noch hier?«, fragte Merlin.
Plötzlich musste David lachen. Er hatte überhaupt keine Anstalten gemacht, seine Schuhe wieder anzuziehen. Er hatte sie vorhin einfach von den Füßen getreten, als sie sich unterhalten hatten, und nicht wieder angezogen. Aber, wenn er es recht bedachte, wäre es keine schlechte Idee, einfach noch ein wenig hier zu bleiben. Doch da war ja noch Paolo ...
»Nein, ich denke ...«
Draußen hupte es wieder.
»Du, ich muss los, sonst fährt Chris gleich wieder. Er ist in solchen Dingen echt ein Arsch.« Merlin drückte ihm einen Kuss auf den Mund, dann sagte leise: »Mensch, ich liebe dich.«
David stand vollkommen perplex mitten im Raum. Das war es. Merlin war verschwunden und ließ ihn einfach hier im Zimmer zurück. Er hörte das Poltern auf der Wendeltreppe, das in seinem Kopf unglaublich laut schepperte. Unten fragte Selma irgendwas, doch Merlin gab offenbar keine Antwort - zumindest keine zufriedenstellende.
»Merlin!«, rief Selma laut. Doch das nächste, was David hier oben hörte, war das Knallen der Haustür. Es war nur für ein Wochenende. Im Grunde noch nicht mal das. Nur eine Nacht. Morgen würde Merlin schon wiederkommen müssen, wenn er am Montag zur Schule wollte. Was aber war, wenn er Montag einfach nicht zur Schule kam? David merkte, dass seine Augen feucht wurden. Verdammt, das war doch albern! Draußen heulte der Motor von Christians Wagen auf. David wollte ans Fenster gehen, um Merlin vielleicht noch winken zu können. Aber seine Füße gehorchten ihm nicht. Wie angewurzelt blieb er stehen. Dafür glühten seine Wangen, als hätte man ihn geschlagen. Irgendwie fühlte er sich auch so.
»David?«, fragte Selma zaghaft.
David sah zur Tür. Merlins Mutter stand im Rahmen und sah ihn mit großen Augen an.
»Was ist passiert?« Sie schüttelte den Kopf, als ob sie es nicht fassen konnte, dass er noch hier war, Merlin aber nicht mehr.
»Ich - ähm - ich ...« Mehr brachte er nicht heraus.
Selma sah ihn vollkommen fassungslos an. »Ich glaub das ja einfach nicht«, sagte sie. »Ist Merlin jetzt einfach so abgehauen, ohne was zu sagen?«
David schüttelte den Kopf. Er fühlte sich den Tränen nahe. Wenn er jetzt irgendwas sagte, würde er sicher losheulen.
»Na gut«, sagte Selma. »Dann weißt also wenigstens du Bescheid.« Sie betrachtete seine Füße. »Willst du noch hier bleiben?«, fragte sie und es hörte sich so an, als würde sie sich darüber freuen.
»Nein«, presste David hervor. »Eigentlich wollte ich rüber und ...«
»Ich kann uns einen Tee machen und wir quatschen ein wenig, wenn du magst.«
»Aber ...«, fing David an.
»Drüben kennt dich doch jeder«, fuhr ihm Selma dazwischen. »Lass uns die Chance nutzen. Paolo ist auch gleich weg und dann bin ich allein.« Sie drehte sich ohne auf seine Antwort zu warten um und ging.
David überlegte einen Moment, dann nahm er seine Schuhe und folgte ihr nach unten. Mit den Schuhen in der Hand stellte er sich in die Küchentür. Paolo suchte etwas im Kühlschrank.
»Du magst doch Tee, oder?«, fragte Selma.
David nickte nur.
»Nicht gerade gesprächig, dein Gast«, sagte Paolo und schloss den Kühlschrank. Er hatte ein Glas Milch in der Hand und trank davon. Dann sah er ihn durchdringend an, während er sich über die Lippen leckte. Eine überaus erotische Geste, dachte David. Der Gedanke drängte sich ihm auf, dass Paolo sich wohl absichtlich so präsentierte, um ihn zu testen. Vielleicht dachte er ja, dass er, wenn er schon nicht mehr mit Merlin spielen durfte, es ja bei ihm probieren konnte.
»Musst du nicht langsam los?«, fragte Selma spitz. »Komm, gib das Glas her!« Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und stellte es in die Spüle. Dann schob sie Paolo aus dem Haus. »Bis nachher.«
Der letzte Blick von Paolo galt aber nicht Selma, sondern
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