Das Meer in seinen Augen (German Edition)
stand er vor der geschlossenen Tür und schaffte es nicht, aus seiner Starre auszubrechen. Paolo hatte ihn ›Kleiner‹ genannt. Er hatte ihm auf die Schulter geklopft. Und was hatte er im Zimmer mit Merlin gemacht? Endlich riss er sich von seinen Gedanken los und stürmte zur Tür. Fast vermutete er schon, dass Merlin sie von innen abgeschlossen haben könnte. Sie gab seinem Druck aber anstandslos nach. Plötzlich stand er im Raum. Er wollte was sagen, aber Merlins überraschter Blick hielt ihn davon ab.
»Hallo«, sagte Merlin verwirrt.
»Hallo«, antwortet David. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er sich erklären musste. Warum war er eigentlich hergekommen?
»Habe ich sehr für Aufruhr gesorgt?« Merlin sah ehrlich besorgt aus. »Ich glaub, ich hab deiner Mutter nen gehörigen Schreck eingejagt, was?«
David nickte. »Ja, mein Vater hat sie aber wieder beruhigt. Sie haben dich jedenfalls nicht gesehen.«
»Gut«, sagte Merlin. »Tut mir leid.« Er drehte sich von ihm weg. Erst jetzt fiel David auf, dass Merlin bis auf die Unterhose nackt war. Augenblicklich hatte er wieder Paolos Grinsen im Kopf.
»Merlin?«, fragte er vorsichtig.
»Ja?«
»Ich - ich würde gern mit dir reden.«
Merlin stöhnte auf und ließ sich nach hinten aufs Bett fallen. Erst jetzt bemerkte David die große Sporttasche, die zu Merlins Füßen lag. Irritiert zog er die Augenbrauen zusammen.
»Du fährst weg?«, fragte er. In seinem Magen warf sich etwas hin und her und wollte raus.
»Ja«, sagte Merlin und schloss die Augen.
Mehrere Sekunden studierte David Merlins Gesicht. Er war versucht, wütend zu werden, ihn anzuschreien, warum er nicht vorher etwas gesagt hatte, warum er sich jetzt einfach so klammheimlich aus dem Staub machen wollte, warum, warum, warum ... Aber der schmerzliche Ausdruck in Merlins Mimik hielt ihn davon ab.
»Wohin?«, fragte er und bemühte sich, seiner Stimme einen neutralen Klang zu geben.
»Zu einem Freund«, antwortete Merlin leise. Dann öffnete er seine Augen wieder und sah ihn an. »Ich muss für ein paar Tage hier weg.«
David schluckte. »Wegen mir? Habe ich was falsch gemacht?«
»Komm zu mir«, sagte Merlin und winkte ihn heran.
Zögernd ging David um das Bett herum und ließ sich von Merlin hineinziehen. Als er neben ihm lag, konnte er einfach nicht anders, als seine Hand auf den nackten Oberkörper zu legen. Augenblicklich stand er unter Hochspannung. Die Berührung elektrisierte ihn und wischte jedes andere Gefühl fort. Langsam zog ihn Merlin zu sich heran. David ließ sich umarmen, legte seinen Kopf neben Merlins.
»Mit dir hat es nichts zu tun, okay?«, flüsterte Merlin. Seine Stimme klang brüchig. David wusste sofort, dass er weinte. Er erwiderte die Umarmung und ließ seine Hand über Merlins nackten Rücken gleiten.
»Aber du kommst doch wieder, oder?«, fragte David ängstlich. Mit einem Mal ging es nicht mehr darum, dass Merlin nicht wirklich mit ihm zusammensein wollte, sondern dass er plötzlich verschwinden und nie wieder zurückkommen könnte.
»Natürlich«, sagte Merlin. »Ich bleib nur übers Wochenende. »Ich muss mir ein paar Gedanken machen.« Er schluckte. »Und das kann ich hier einfach nicht.«
David nickte. »Willst du drüber sprechen?«
Merlin schwieg. David wartete eine ganze Weile, aber er glaubte nicht, dass er noch mit einer Antwort rechnen konnte. Natürlich wusste er, was Merlin beschäftigte. Jetzt konnte er das Grinsen von Paolo bestens einordnen. Merlin würde sein Versprechen halten und seine Affäre beenden, auch wenn er ihm nicht sagte, mit wem er dieses Verhältnis hatte.
Er beugte sich über Merlin und küsste ihn auf den Mund. Wie wunderbar weich seine Lippen sich anfühlten, dachte er. Wieder küsste er ihn, diesmal etwas forscher, sodass Merlin nachgab und sich ihre Zungen berührten.
Dann fragte er: »Sind wir eigentlich - jetzt zusammen, oder ...«, er brach ab.
Merlin sah ihn lange an. Seine grünen Augen erforschten sein Gesicht. Dann nickte er. »Ich glaub schon.«
55
Merlin spürte, dass die Worte aus Überzeugung aus ihm heraus kamen. Ja, er liebte diesen Jungen. Wenn David ihn berührte, fühlte es sich an, als würden sie miteinander verschmelzen. Er dachte über die Worte seiner Mutter nach. Wenn er David erst einen Grund geben würde, wüsste er, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Merlin stellte erstaunt fest, dass eigentlich genau das auf ihn selbst zutraf. Vielleicht hatte er es gestern nicht so richtig wahrgenommen,
Weitere Kostenlose Bücher