Das Meer in seinen Augen (German Edition)
sich in Erwartung der Reaktion auf sein Vorhaben.
»Ich glaube nicht, dass das eine so gute Idee ist«, sagte sie aber nur ruhig. »Der Arzt hat gesagt, dass du Ruhe brauchst. Die hast du hier.«
»Aber ich möchte mit Merlin sprechen, und das kann ich nur drüben.«
Sie sah ihn seltsam an. David hatte das Gefühl, dass sie kurz darüber nachdachte, Merlin rüberzuholen. Aber das war dann wohl doch ein wenig zu viel für sie. Er stieg von der letzten Stufe und ging Richtung Haustür.
»David«, sagte sie noch, »es ist am Besten, du beendest die Sache. Lass dich nicht auf so ein Spiel ein.« Sie verzog bei den letzten Worten das Gesicht zu einer abfälligen Grimasse.
David nickte und verließ das Haus. Es war schön, die heiße Sommerluft zu spüren. Vielleicht hatte seine Mutter sogar recht, dachte er, während er die Straßenseite wechselte. Hatte es noch Zweck, mit Merlin zusammen sein zu wollen? Schmerzlich wurde ihm wieder bewusst, was gestern abend überhaupt geschehen war. Die Bedeutung dessen musste er sich immer erst vor Augen führen: Merlin hatte ihn betrogen! Das war eine Tatsache, die er nicht ignorieren durfte, egal, wie sehr er auch in ihn verliebt war. Plötzlich ergriff ihn Wut. Sogar seine Mutter hatte es gesehen! Sie war Zeugin seiner Untreue geworden! Wie sollte er ihr jetzt nur erklären, dass er nicht nur schwul war, sondern auch keinen Wert auf Treue legte? Und das bei ihren Ansichten ...
Er klingelte.
»Hallo David!«, rief Selma und strahlte. »Geht es dir wieder gut? Was macht der Kopf?«`
»Noch dran«, antowortete David knapp und fragte, obwohl er es ja bereits wusste: »Ist Merlin da?«
»Oben«, sagte sie und ihr Ausdruck wurde gleich ernst. »Alles in Ordnung bei euch?«, fragte sie ihn, während sie ihn hineinzog und die Tür schloss.
David zuckte die Schultern. »Ich denke schon.« Was sollte er auch anderes sagen, ohne sich mit seiner Aussage zu Erklärungen zu verpflichten? Trotzdem las er in ihrem Gesicht, dass sie nicht überzeugt war. Sie wusste, dass irgendwas zwischen ihnen nicht stimmte.
»Ich geh mal hoch«, sagte er und wandte sich ab.
»Redet miteinander!«, rief sie ihm hinterher. »Nur redenden Menschen ... Du kennst den Spruch ja.«
Als David oben ankam, blieb er zögernd vor der geschlossenen Zimmertür stehen. Er dachte an seine Mutter. Sie hätte es am liebsten gesehen, wenn er einfach zu Hause geblieben wäre. Wieder stellte er sich die Frage, warum Merlin nicht zu ihm gekommen war. Zaghaft klopfte er an. Keine Antwort. Er drückte die Klinke und öffnete die Tür. Merlin saß noch immer am Schreibtisch und tat konzentriert. Er drehte sich nicht zu ihm um.
»Merlin?«, fragte er.
»Ja?«
»Darf ich reinkommen?«
»Klar«, sagte Merlin und wandte sich endlich um.
David sah einen Moment in diese großen, traurigen Augen. Das Meer war heute grau. Dann ging er zum Bett und setzte sich. Augenblicklich dachte er wieder an das, was er durchs Fenster beobachtet hatte. Irgendwie war es seltsam, genau auf dieser Stelle zu sitzen.
Merlin drehte sich wieder um und schrieb weiter.
David traute sich nicht, etwas zu sagen. Ihm schwirrten auch zu viele Gedanken im Kopf herum, als dass er etwas Vernünftiges zustande gebracht hätte. Merlin tat ihm plötzlich leid. Aber wie konnte es sein, dass er im einen Moment so sauer war und darüber nachdachte, dass es keinen Zweck hatte, mit Merlin eine Beziehung zu führen, und im nächsten wollte er nichts lieber, als sich an ihn zu kuscheln und einfach über nichts nachdenken zu müssen. Zu denken war eh eine Strafe, dachte er. Unbehaglich zog er den Vergleich in Betracht, dass sich Merlin vielleicht genausowenig Paolo entziehen konnte, wie er sich ihm. Aber das half ihm nicht weiter. Dass er jetzt gern mit Merlin zusammen hier liegen würde, bedeutete noch lange nicht, dass er nicht verletzt war, oder dass er das, was gestern passiert war, besser verstand. Er wollte Merlin noch immer für sich allein haben. Dann schoss ihm die Frage durch den Kopf, worin denn der Unterschied bestand: Merlin hatte vorher schon mit Paolo geschlafen und er tat es jetzt auch. War das wirklich so schlimm? In ihm schrie es sofort: Ja! Niemals würde er sich damit abfinden können, dass sich Merlin jemanden anderes hingab. Und er war sich auch nicht sicher, ob er das so einfach verzeihen konnte. Dabei ging es weniger um den Akt an sich, als um die Tatsache, dass Merlin etwas mit jemanden teilte, dass er jetzt eigentlich mit ihm teilen sollte.
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