Das Meer in seinen Augen (German Edition)
Schattenbild auf die Sitzfläche. Merlin dachte, dass sie jetzt eigentlich dort sitzen müssten. Sofort bekam er ein schlechtes Gewissen. Paolo kam ihm wieder dazwischen und er ließ sich in einen normalen Schritt zurückfallen. Bevor er mit David wieder dort sitzen konnte, musste er ihm erst erzählen, was gestern abend vorgefallen war.
Als er wenige Augenblicke später den Weg verließ und die Straße betrat, wusste er bereits, dass er noch nicht bei David vorbeischauen würde. Bis gerade war es ihm das Wichtigste gewesen, erst zu wissen, was mit ihm los war. Aber jetzt hatte er mit einem Mal das Gefühl, sich eine Verschnaufpause gönnen zu müssen. Also ging er ganz normal nach Hause.
»Merlin«, sagte seine Mutter sofort. Sie stand in der Küche und trank Tee. »Willst du auch einen?«
»Nein«, antwortete Merlin knapp und wollte weiter.
»Warte einen Moment, ich muss dich etwas fragen.«
Er blieb stehen. Sein Herz schlug sofort schneller. Was wollte sie ihn fragen? Ihre Stimme klang so merkwürdig, so ernst. Wusste sie irgendetwas? Wieder bekam er Paolos grinsendes Gesicht nicht aus dem Kopf.
»Ja?«, fragte er unsicher.
»Ist gestern etwas vorgefallen?«
Merlin schwankte ein Stück vor und stützte sich am Türrahmen ab. »Wie - wie meinst du das?« Er hatte das Gefühl, dass seine Frage schon alles verriet.
»Na, zwischen dir und David«, sagte Selma.
Augenblicklich fühlte sich Merlin so leicht, dass er Angst hatte, gleich abzuheben. »Nein.« Seine Tonlage erschien ihm etwas zu hoch, also wiederholte er sich noch mal deutlicher: »Nein, nicht dass ich wüsste.«
Sie nickte.
»Wieso?«
»Ich habe David gestern gesehen. Er wollte zum Sport.«
Merlin räusperte sich. Ja, das musste ihr natürlich komisch vorkommen, schließlich waren sie ja noch zusammengewesen, als sie gestern das Haus verlassen hatte. Plötzlich fiel ihm ein, dass sie wohl erst sehr spät wieder nach Hause gekommen war. Hatte sie vielleicht mit David gesprochen? Hatte er ihr irgendwas erzählt?
»Merlin, David hatte gestern einen Unfall«, sagte sie leise, »aber es geht ihm gut.«
Eine Schockwelle erfasste ihn. Die ersten Worte waren ihm sofort durch Mark und Bein gegangen, da konnte die Beschwichtigung auch nichts mehr ändern. Merlin fühlte, wie ihm plötzlich kalt wurde. Immer wieder versuchte er sich den Nachtrag in den Kopf zu rufen - aber es geht ihm gut. Darauf sollte der Schwerpunkt liegen. Trotzdem verspürte er keine Erleichterung.
»Was ist passiert?«, presste er schließlich hervor.
»Er ist bei rot über die Straße. Ein Wagen hat ihn erwischt. Ich war heute morgen schon drüben, er ist wieder zu Hause.«
»Gut.« Merlin hörte das Wort schwammig aus seinem Munde. Zäh hing es in der Luft.
»Eine leichte Gehirnerschütterung«, fügte Selma noch an.
Merlin nickte. Langsam kam er wieder zu sich. Aber der Schreck steckte ihm noch in den Knochen. David hatte einen Unfall gehabt. Wenn Paolo ihn nicht fortgeschickt hätte, dann wäre das nicht passiert, dachte er sich. Plötzlich kam ihm die Tatsache an sich völlig unmöglich vor. Wie konnte David verunglücken und er merkte nichts davon? Noch schlimmer empfand er die Vorstellung, dass er vielleicht genau in diesem Moment mit Paolo ...
»Lin? Geht's dir nicht gut?«, fragte seine Mutter.
»Nein - also, doch«, stotterte Merlin. »Ich bin nur - etwas durcheinander.«
»Da war also doch etwas zwischen euch, oder?« Sie sah ihn ernst an.
Merlin schwieg.
»Ich habe dir gesagt, du sollst ihm Zeit lassen«,sagte sie leise und berührte seinen Arm. »Vielleicht drängst du ihn zu sehr?«
Merlin schüttelte den Kopf. Wie kam sie nur auf solche Ideen? Irgendwie machte ihn das sauer. »Paolo wollte gestern etwas mit mir besprechen und da ist David eben rüber. Vielleicht war ihm langweilig?«
Selma sah ihn überrascht an. »Was besprechen?«, fragte sie und Merlin wusste sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte.
»Ja«, sagte er und bemerkte den trotzigen Unterton. »Aber das ist jetzt nicht interessant. Wie kommst du darauf, dass ich David unter Druck setze?«
Sie schwieg eine Weile. »Ich - ich weiß es nicht.« Ihre Augen wanderten zum Fenster hinaus. Merlin wusste, dass sie ihn lediglich dann nicht ansah, wenn sie ihrer Sache nicht mehr so sicher war. »Er machte so einen verstörten Eindruck. Und er ist gerannt, als müsste er vor etwas davonlaufen.«
In ihm wuchs die Wut. Wie konnte sie nur alles immer so deuten, dass es für sie einen Sinn ergab und
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