Das Meer in seinen Augen (German Edition)
Aber was war, wenn er selbst derjenige war, der dies nicht mit Merlin teilen wollte - zumindest noch nicht? War er dann letztlich nicht selbst Schuld?
»Wie geht es dir?«, fragte Merlin plötzlich und riss ihn aus seinen Grübeleien.
»Ganz gut«, sagte David.
Merlin stand auf und kam zu ihm rüber. Er sah ihn dabei nicht an. Automatisch ergriff David Merlins Hände und hielt ihn fest. Wie schön sie sich anfühlten und doch hatte er mit genau diesen Händen ... David ließ wieder los.
»Ich habe es erst vorhin erfahren. Gesternhabe ich - schon früh geschlafen und - heute morgen, hat meine Mutter geschlafen.« Merlin schwieg lange. »Ich hab dich vermisst«, sagte er schließlich noch.
»Ich dich auch«, antwortete David. »Eigentlich - dachte ich, dass du - rüberkommst.«
»Ich muss mit dir reden.« Merlins Stimme war kaum zu hören. David wusste sofort, dass er ihm seinen gestrigen Abend beichten wollte. Ihm schossen etliche Möglichkeiten durch den Kopf. Sollte er einfach schweigen und warten, bis Merlin ihm alles gesagt hatte? Oder sollte er es ihm ein wenig einfacher machen, ihm sagen, dass er alles gesehen hatte?
»Ich - ich weiß nicht - wie ich anfangen soll«, stammelte Merlin und strich sich mit den Händen immer wieder über die Schenkel, als müsste er etwas abwischen.
David gab sich einen Ruck. »Ich weiß«, sagte er. »Ich habe euch gesehen.«
Merlin nickte.
»Meine Mutter auch«, fügte David hinzu.
Merlin setzte sich aufs Bett. Er wusste offenbar nicht, wo er hinschauen sollte, also schloss er die Augen. Eine Ewigkeit später öffnete er sie wieder. Tränen liefen ihm über die Wangen, als er David ansah.
»Ich bin ein Arschloch«, presste er hervor.
David nickte stumm. Aber er dachte nicht mehr an den Vorfall oder das, was zwischen ihnen stand. Er hatte sich längst in der stürmischen See verloren.
90
Merlin spürte, wie Davids Augen in ihn hineinkrochen. Plötzlich hatte er das Gefühl, als könne dieser Junge in ihn heinschauen, als könne er alles überprüfen, was in seinem Kopf so vorging. Dabei war er sich selbst noch nicht mal sicher, ob er überhaupt wusste, was sich in seinem eigenen Kopf abspielte. Er sah nur diesen Blick, der völlig unerwartet voller Zuversicht steckte. Dann Davids Hand, die sich langsam seinem Gesicht näherte. Wollte er jetzt berührt werden? Merlin wich zurück. Plötzlich hatte er Angst, dass David das alles einfach so hinnehmen könnte.
Unschlüssig blieb David vor ihm stehen. Seine Augen schienen wieder in die Realität zurückzukehren. Jetzt kam auch die Trauer wieder zurück, das Entsetzen und die Wut. Merlin schob sich noch ein Stück weiter nach hinten, bis er ganz auf dem Bett saß. Es verwunderte ihn, dass er eher damit umgehen konnte, dass David wütend und enttäuscht war, obwohl er ja genau das nicht wollte. Aber die Vorstellung, dass David das einfach so hinnehmen könnte, womöglich ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen, erschreckte ihn. Konnte man jemanden so einen Fehltritt wirklich verzeihen, ohne dass man die eigenen Gefühle berücksichtigte? Konnte man jemanden wirklich lieben, wenn einem der Betrug des Partners nichts ausmachte? Gleichgültigkeit war letztlich immer die schlechteste Möglichkeit, dachte Merlin.
»Was - was denkst du?«, fragte er mühsam.
David zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht.«
Sie schwiegen einen unendlich langen Moment. In Merlin stürzten die Gedanken durcheinander. Konnte jemand wirklich nicht wissen, was er denken sollte, wenn er sowas erfahren musste? Wie würde er sich denn selbst fühlen? Und da wurde Merlin schnell klar, dass er sich selbst längst in den Wind geschossen hätte. Wenn David eine solche Affäre hätte, wie er selbst, er würde sich von ihm abwenden. Er selbst hätte niemals so viel Verständnis gezeigt und es trotzdem mit ihm probiert. Vielleicht wollte David auch deshalb nicht mit ihm schlafen, weil er sich einfach noch nicht sicher war, ob er das alles überhaupt eingehen wollte?
»Macht es - Spaß?«, fragte David plötzlich.
Merlin zuckte innerlich zusammen. Natürlich wusste er sofort, was David wissen wollte, trotzdem fragte er noch mal nach: »Was?«
»Mit Paolo ...«, sagte David nur.
Ja, es machte Spaß, dachte Merlin bitter. Nur in dieser Konstellation ergab es sich, dass er keinen Spaß haben konnte. Oder gefiel es ihm letztlich nur nicht, weil es ihm nicht gefallen durfte? Er verstand sich selbst nicht mehr.
»Es ist ...«, fing er an, fand
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