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Das Meer in seinen Augen (German Edition)

Das Meer in seinen Augen (German Edition)

Titel: Das Meer in seinen Augen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L.B. Roth
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ihm erwartete. Natürlich musste er sich jetzt vor der gesamten Klasse vorstellen. Hoffentlich würde seine Stimme nicht versagen. In Gedanken malte er sich die Blamage aus, wenn er seinen eigenen Namen nun dahinstammelte. Die Blicke der Schüler kitzelten ihn.
    »Wie wäre es mit einer kurzen Vorstellung?«, fragte Stolte schließlich und besiegelte Davids Befürchtungen.
    »Ja«, sagte David zu Stolte und drehte sich zur Klasse. Er sah wahllos einigen Schülern ins Gesicht. Aber außer Neugier konnte er nichts in deren Augen finden. Wenn er es sich jetzt verscherzte ... »Hallo«, fing er an, weil er spürte, dass er bereits zu lange nichts gesagt hatte. In Gedanken formulierte er hektisch eine Vorstellung. »Also - ich bin David, siebzehn Jahre alt und - ich komme aus Hamburg.« Sollte er noch etwas sagen? Alle sahen ihn an, als wollten sie sein Äußeres in sich aufsaugen, um sein Bild mit den soeben erhaltenen Daten zu verschmelzen. Niemand sagte was. Und dann sah David in der letzten Reihe ein bekanntes Gesicht: Der Nachbarsjunge. Sein Herz setzte für einen Moment aus. Plötzlich fand er es noch schlimmer, dass er doch jemanden in dieser Klasse kannte - sofern man hier von ›kennen‹ sprechen konnte. Aber nach kurzem Zögern lächelte der Junge ihm zu und zerstreute seine Ängste.
    »Ja, gut«, sagte Stolte endlich. »Dann setzen Sie sich mal irgendwo hin.«
    David sah sich kurz um. Ein paar Plätze waren gleich vorne am Lehrerpult frei, aber er gab sich einen Ruck und bahnte sich einen Weg durch die Tische nach hinten. Der Junge hatte ihn angelächelt, da würde er wohl nichts dagegen haben, wenn er sich zu ihm an den Tisch setzte. Allein durfte er eh nicht sitzen, das hatte er sich fest vorgenommen. Wenn er sich als Neuer gleich ausgrenzte, indem er sich nicht neben jemanden setzte, würde er erst recht einen schwierigen Start haben.
    »Hi«, sagte der Junge, als er bei ihm ankam.
    »Ich - also - hier ist doch noch frei, oder?«
    »Klar, setz dich.« Der Junge grinste ihn an. Dann sah David im Augenwinkel, dass er eine kleine Geste zu jemanden anderes machte. Augenblicklich wurde er unsicher, setzte sich aber trotzdem auf den Stuhl. Fahrig nahm er ein Schreibheft heraus und fürchtete, gleich ausgelacht zu werden, weil alle anderen entweder Schreibblöcke oder Ordner vor sich liegen hatten. Hefte waren wohl etwas für die Unterstufe.
    Plötzlich flog ein zusammengefaltetes Stück Papier auf den Tisch. Der Junge nahm es schnell an sich. David sah schräg gegenüber ein Mädchen, das zu ihnen hinübersah. Zuerst fühlte er sich gar nicht angesprochen, weil er sie anhand ihres Grinsens als Zettelwerferin identifizierte. Dann spürte er aber, dass da mehr war. Irgendwie wurde ihm wieder unwohl. Machte sie sich über ihn lustig? Warum warf sie ein Briefchen herüber? Teilte sie seinem neuen Tischnachbarn darin etwa mit, wie doof sie ihn fand? Angestrengt versuchte er, diese Art von Gedanken aus seinem Kopf zu halten. Doch das war gar nicht so einfach, wenn man einen Großteil seines Lebens damit zugebracht hatte, immer auf diese Weise zu denken. Er schloss die Augen und versuchte sich ein paar Dinge vorzustellen, die in dem Zettel stehen könnten und nichts mit ihm zu tun hatten. Als er die Augen wieder öffnete, schrieb sein Nachbar gerade etwas zurück. Dabei benutzte er die linke Hand als Sichtschutz. David sah weg. Vorn schrieb der Lehrer Stolte einen Stundenplan an die Tafel. Aber das Mädchen lenkte ihn ab. Immer wieder schaute sie zu ihnen hinüber, wohl um zu kontrollieren, ob ihre Antwort fertig war. Dann zwinkerte sie ihm unerwartet zu. David überlegte einen Augenblick, ob das wirklich ihm galt und ob er irgendwie darauf reagieren sollte, als sie den Blickkontakt auch schon wieder abbrach und nach vorn sah. Er hätte zumindest lächeln müssen, fiel es ihm zu spät ein. Was sollte sie jetzt von ihm denken?
    »Ähm, hast du noch einen Kuli oder so?«, unterbrach sein Nachbar die Überlegungen.
    Irritiert sah David erst ihn, dann den fremden Kugelschreiber auf dem Tisch an.
    »Der ist leer«, sagte der Junge.
    »Ach so.« Eilig kramte David in seiner Tasche nach seinem Ersatzstift. »Hier«, sagte er und reichte einen Kugelschreiber weiter.
    »Danke. Ich bin übrigens Merlin.«
    »David«, sagte David und hielt Merlin seine Hand hin. Irgendwie kam ihm diese offizielle Begrüßung komisch vor, aber nun war es zu spät sie zurückzuziehen.
    »Ich weiß«, antwortete Merlin, ergriff aber dennoch die Hand.

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