Das Meer in seinen Augen (German Edition)
»Ich habe nicht aufgepasst.«
»Das habe ich gemerkt.« Stolte sah sie beleidigt an. »Wie wollen Sie mit einem solchen Verhalten das Abitur bestehen?«
»Ach, wissen Sie, bis dahin kann man noch viel lernen.« Linda grinste ihn frech an.
»Warten Sie nicht zu lang damit. Erkundigen Sie sich bei Ihren Mitschülern, wo Sie die Bücher herbekommen.« Stolte wies an die Tafel, an der ein paar Titel standen. »Und für Sie da hinten«, richtete er sich an Merlin, »gilt das natürlich genauso.«
»Na klasse«, murmelte Merlin und beugte sich zu David hin. »Das ist immer so, wenn Linda eins drauf bekommt, dann ich auch. Irgendwie gelten wir hier als eine Person.«
»Ist das deine Freundin?«, fragte David.
»Nein - also, wir sind nur Freunde.« Merlin überlegt, ob diese Antwort vielleicht blöd klang. Aber David nickte und notierte sich etwas, das Stolte gerade gesagt hatte. Er würde noch früh genug von den anderen über Merlins sexuelle Ausrichtung aufgeklärt werden. Sowas sprach sich immer sehr schnell rum. Vielleicht sähe es aber besser aus, wenn er es ihm selbst sagte. Dann würde er auch verstehen, weshalb er sich für die billige Anmache mit der Zigarette entschuldigt hatte. Mal sehen, Linda wusste doch sonst immer was zu tun war - er würde dann konsequent das Gegenteil machen. Ein Schmunzeln zog sich über sein Gesicht, als er das so auf den Zettel schrieb und wieder zurück warf.
Ein paar Minuten später kam das Briefchen zurück und landete wieder bei David. Merlin war sich ziemlich sicher, dass Linda das mit voller Absicht machte und ihm entging auch nicht, dass sein neuer Tischnachbar wieder leicht rot wurde. Bestimmt fragte er sich, was er hier mit Linda zu schreiben hatte. Merlin faltete das Papier unter Ausschluss der Öffentlichkeit auseinander. Na klar. Sag's ihm. Besser als wenn er es von anderen erfährt.
Merlin überlegte lange. Sollte er es ihm wirklich so einfach vor den Latz knallen? Was ging es ihn überhaupt an? Er selbst wollte ja auch nicht wissen, mit wem andere in die Kiste gingen - obwohl, in diesem Fall interessierte ihn das sogar mal. Er schrieb: Ich weiß nicht. Ich warte mal ab, ob sich eine Gelegenheit ergibt. Meinst du er ist auch schwul? Dann knüllte er das Papier wieder zusammen und warf es zurück. Als sie es las, sah sie auf und verdrehte die Augen. Merlin wusste sofort, was sie dachte. Machte er sich die Sache wirklich immer zu kompliziert? Mensch, er kannte diesen David doch noch nicht mal eine Stunde.
Frag ihn, wenn du es wissen willst! , schrieb Linda zurück. Das war mal wieder typisch für sie. Kaum ahnte sie, dass man ihre Vorschläge nicht annehmen würde, wurde sie bockig und verweigerte sich. Dabei wusste Merlin, dass es für sie nichts Schöneres gab, als eben solche Spekulationen. Wenn er da an ihre gemeinsamen Abende in den Ferien dachte ... In stundenlangen Gesprächen hatten sie erörtert, wer aus der Klasse schon mal Sex gehabt hatte und wer nicht, wer worauf stand und wer mit wem zusammen passen würde.
»Was willst du wissen?«, fragte David plötzlich und riss ihn aus seinen Gedanken. Dann bemerkte Merlin den Blick seines Tischnachbarn. Er hatte den Zettel dummerweise offen liegen lassen.
»Ach.« Merlin schluckte. Was sollte er ihm nun sagen? »Das ist - also - ich hab da ein wenig Stress mit einem - Bekannten von Linda«, sagte er. »Da hab ich sie einfach mal gefragt, ob der mich nicht leiden kann.«
»Oh«, machte David und wandte sich wieder ab. Doch Merlin wurde das Gefühl nicht los, dass seine Ausrede absolut nicht glaubwürdig war. Irgendwie hatte er ein Talent dafür, sich mit solchen Geschichten immer tiefer reinzureiten. Sie kannten sich noch nicht mal wirklich und schon musste er eine Lüge nach der anderen auftischen. Richtig romantisch.
»Wieso bist du eigentlich von Hamburg hier runter?«, fragte er schnell, um wieder ein harmloses Gespräch herzustellen.
»Mein Vater hat hier einen neuen Job bekommen - bei Elco.«
»Eloquent Collectors GmbH?« Merlin riss die Augen auf.
»Ja, ich glaube dein Vater arbeitet da, oder?«
Jetzt war Merlin sprachlos. »Also - ja, aber - nein, er ist nicht mein Vater. Ist der Freund von meiner Mutter.«
»Oh, mein Vater meinte, dass sein neuer Chef mit seiner Familie gleich gegenüber wohnen würde, da dachte ich ...«
»Woher weißt du - Moment ...« Ihm fiel ein, dass seine Mutter gesagt hatte, dass Paolo ein neuer Geschäftsführer unterstellt würde. Dazu kam dann ihr Hinweis, dass
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