Das Meer in seinen Augen (German Edition)
dann brach die Welt um ihn herum auseinander. Seine Mutter spielte verrückt und sah überall nur das Böse, als wäre sie plötzlich Mutter Teresa. Zu dem was drüben bei Merlin abging, fiel ihm auch nichts mehr ein. Irgendwie - ja, irgendwie hatte seine Mutter sogar recht. Wenn man das alles mal zusammenzählte, dann ergab sich eine unglaubliche Geschichte, die es so doch einfach nicht im realen Leben geben konnte.
»David?«
»Lass mich bitte«, sagte er. Er wollte jetzt nur noch allein sein und schlafen. Einfach mal für kurze Zeit an nichts denken müssen.
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht gegen dich arbeite. Auf keinen Fall will ich deinem Glück im Wege stehen. Aber ...«
»Mam!« David drehte sich zu ihr um. »Das alles hast du mir schon oft genug gesagt. Ich brauche das bestimmt nicht schriftlich.«
Plötzlich sah sie ihn wütend an. »Verdammt, was ist nur los mit dir? Ich versuche dir mitzuteilen, dass ich auf deiner Seite bin und du auf mich zählen kannst, aber du ...«
»Es ist einfach der falsche Zeitpunkt!«, schrie David.
Sie sah ihn einen Moment ungläubig an. Dann wiederholte sie fassungslos: »Was ist bloß los mit dir?«
»Verstehst du das nicht?«, fragte David genervt. Ein schmerzverzerrter Ausdruck schob sich auf sein Gesicht. »Ich habe mich in Merlin verliebt. Aber ich kann nicht einfach schweigen, wenn er - sowas macht. Ich mag Selma. Sie ist echt eine tolle Mutter und sie hat das nicht ...«
»Bin ich keine tolle Mutter?«
David sah sie irritiert an. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Du hörst nicht mal zu, wenn ich dir was erzähle. Das Einzige, was dich interessiert, ist doch die Tatsache, dass ich jetzt nicht mehr mit Merlin ficken kann.«
Hanne stürzte vor und gab David eine Ohrfeige. Der Knall hinterließ ein sattes Brennen auf Davids Wange. Entfernt hörte er, dass seine Mutter noch etwas schrie. Aber sein Ohr nahm nur ein dumpfes Wabbern auf. Der Kopfschmerz, der heute über den Tag hinweg verschwunden war, setzte wieder ein.
103
Merlin saß an seinem Schreibtisch und las seine letzten Gedichte immer und immer wieder. Beim Schreiben hatte er sich nicht wirklich viele Gedanken darüber gemacht, aber jetzt, da er sie sich alle noch mal vornahm, fiel es ihm besonders deutlich auf: Alles was er geschrieben hatte, seit er David begegnet war, handelte von ihm. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals zuvor so konzentriert Gedichte an eine einzige Person gerichtet hatte. Was ihn dabei noch mehr irritierte, war die Tatsache, dass diese Gedichte nicht mal wirklich gut waren. Objektiv betrachtet hatte er einiges in der Schublade, was sich bedeutend besser las. Trotzdem hatte gerade die letzte Woche etwas aus ihm herausbefördert, das ihm trotz seiner nicht ganz zufriedenstellenden Qualität viel wichtiger erschien. Und das, obwohl gerade in der letzten Woche etliches passiert war über das er eher hätte schreiben können. Warum hatte er kein einziges Gedicht über seine Mutter geschrieben? Überhaupt, warum kam er nicht mal auf diesen Gedanken? Er schrieb doch über alles andere.
Merlin dachte niedergeschlagen an seinen gescheiterten Versuch, endlich Klarheit zu schaffen. Im Grunde war es dafür noch nicht zu spät, aber er konnte sich trotzdem nicht aufraffen. Die Befürchtung, dass Linda plötzlich weiblichen Zusammenhalt ausleben und anrufen würde, hatte er längst beiseitegeschoben. Linda war seine beste Freundin, sie würde ihn nicht verraten. Auch wenn er wusste, dass er ihrem Drängen nach Gerechtigkeit über kurz oder lang nicht standhalten würde, wenn sie ihm die Geschichte erst mal abgenommen hatte. Aber dazu würde es unter Umständen gar nicht kommen. Wenn seine Mutter sich tatsächlich von Paolo trennen wollte, dann bedeutete das auch logischerweise, dass sie wieder umziehen würden. Und wenn Merlin ehrlich war musste er sich eingestehen, dass dies die Lösung für all seine Probleme sein konnte, auch wenn das bedeutete, dass er David zurücklassen musste. Jedenfalls würde seine Mutter einen möglichen Vorschlag, nicht nur ans andere Ende der Stadt zu ziehen, ganz sicher positiv aufnehmen.
Unten ging die Haustür. Sofort war Merlin wieder in der Realität. Das musste Paolo sein. Er warf einen prüfenden Blick auf die Uhr. Seine Mutter hatte das Schlafzimmer nicht verlassen. Unvermittelt fühlte Merlin Wut aufkommen. Paolo hatte seine Mutter geschlagen! Kurz darauf folgte das schmerzliche Gefühl der Niederlage. Was sollte er schon tun? Er
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