Das Meer in seinen Augen (German Edition)
betrogen hatte, hatte er ihr von Merlin erzählt. Er hatte genau das getan, wofür er Merlin verurteilte. War das nicht der größere Betrug?
Die Sonnenstrahlen wurden von ein paar kleinen Wolken geteilt und huschten in einem lustigen Spiel über das Gras. Ruckartig sprang David auf. Es kam ihm falsch vor, jetzt hier zu sitzen und die Natur zu genießen. Eher sollte er zu Hause sein und im Bett liegen. Zumindest würde das viel besser zu seiner derzeitigen Lage passen.
Schnell machte er sich auf den Weg hinauf zur Straße. Als er später die Haustür aufschloss, ahnte er bereits, dass seine Mutter ihn schon erwartete.
»Und? Wie ist es gelaufen?«, fragte sie sofort.
David nickte. Er wusste, dass sie ihm keine Verschnaufpause gönnen würde. Nicht heute und erst recht nicht in dieser Situation.
»Es war gut«, sagte er knapp.
»Was heißt denn das?« Sie sah ihn vorwurfsvoll an und stemmte die Hände in die Hüften.
»Ich habe den Job.« David hielt kurz inne. »Paps war auch da, aber er hatte nicht wirklich Zeit.«
»Na, das hättest du dir doch denken können, oder nicht?« Sie lachte. »Und was ist mit - deinem Freund?«
David stockte. Er hatte damit gerechnet, dass seine Mutter Fragen über seinen Job stellen würde, aber dass sie ihn nach Merlin fragen würde ... Er schluckte schwer.
Hanne machte ein ernstes Gesicht. »Jetzt mach nicht wieder so ein Theater daraus!«
»Ich - ich habe mit Selma gesprochen«, presste David hervor. Im gleichen Moment fragte er sich, warum er seiner Mutter das überhaupt erzählte. Sie interessierte sich nicht für Selma - und Merlin mochte sie auch nicht. Ihr war es doch ganz recht, wenn er mit den Nachbarn nichts mehr zu tun hatte. Und trotzdem hatte er gerade so ein Bedürfnis, mit jemanden zu sprechen. Aber mit seiner eigenen Mutter?
»Wie hat sie reagiert?«, fragte Hanne.
David beobachtete sie. In ihren Augen spiegelte sich aufrichtiges Interesse, keine Anzeichen von Schadenfreude oder was auch immer er seiner Mutter noch zutraute, wenn es um die böse Hexe von nebenan ging.
»Ich glaube, sie ist völlig runter mit den Nerven.«
Hanne nickte. »Das glaube ich.« Nach einem Augenblick fügte sie noch an: »Arme Frau.« Dann räusperte sie sich. »Aber was kann man auch anderes erwarten. Ich meine, welche Frau in ihrem Alter lässt sich auf so einen Kerl ein? Da kann doch nichts bei rumkommen!«
David wurde rot. Noch nie hatte er seine Mutter so reden hören. Also bekam sie doch mehr von der Welt mit, als sie zugab, dachte er. Der Gedanke, dass seine Mutter sogar über Sex Bescheid wissen und ihn zumindest in der Vergangenheit schon mal praktiziert haben musste, ließ seine Gesichtsfarbe noch eine Spur dunkler werden.
»Was ist?«, fragte sie. »Meinst du, ich weiß nicht, was da drüben läuft?« Noch bevor David irgendwas antworten konnte, fuhr sie fort: »Die ganze Familie ist doch auf die falsche Spur geraten. Die Mutter sucht sich einen jungen Machokerl, weil sie nur an das Eine denkt. Der betrügt sie natürlich nach Strich und Faden, was ihr wahrscheinlich nicht mal das Geringste ausmacht, weil sie ganz sicher für eine offene Liebe ist und für derlei Spiele Verständnis hat. Der Sohn hat weder Vater noch eine anständige Erziehung. Kein Wunder, dass er homosexuell geworden ist. Und der Kerl, der kann vor lauter Trieben nicht anders, als gleich mit ihm in die Kiste zu hüpfen. Gott, ich will gar nicht wissen, wie lang dieses traurige Spiel schon läuft. Da kann doch kein vernünftiger Mensch herauskommen. Und am Ende greift das dann um sich!« Die letzten Worte schrie sie förmlich in den Flur.
David stand völlig geschockt vor seiner Mutter. Sie hatte ein hochrotes Gesicht und ihre Haare waren durcheinander geraten.
»Mam!«, sagte er nur und schüttelte vollkommen überfordert den Kopf.
»Ist es denn nicht so?«, fragte Hanne erschöpft. »Ist es denn nicht ganz genau so?«
»Nein«, flüsterte David. »Merlin ist ein - er ist - ich weiß auch nicht ...« Plötzlich standen ihm Tränen in den Augen, die er nicht mehr rechtzeitig unterdrücken konnte. »Ich liebe ihn einfach«, schluchzte er, »und ich hab ihn verraten. Ich - ich - ach, Scheiße!« Er drehte sich um und spurtete die Treppe hinauf. Völlig außer Atem geraten warf er sich auf sein Bett. Das war alles ein wenig zu viel für ihn. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er einen Menschen, den er wirklich liebte, mit dem er am liebsten den ganzen Tag zusammen sein wollte. Und ausgerechnet
Weitere Kostenlose Bücher