Das Meer in seinen Augen (German Edition)
aufkam. Auch wieder ein Grund, für den es sich zu schämen galt. Sicher, seine Mutter war natürlich vollkommen auf seiner Seite, weil es doch letztlich bedeutete, dass er den Kontakt zu Merlin und Selma verlieren würde - zumindest erhoffte sie sich das. Aber David selbst war sich nicht mehr so sicher, ob seine Entscheidung tatsächlich die Richtige gewesen war. Er hätte vielleicht doch lieber noch mal mit Merlin reden sollen, hätte ihm sagen müssen, wie ernst es ihm mit der Treue war. So aber hatte er einfach seinen negativen Gefühlen Merlin gegenüber nachgegeben und damit wahrscheinlich alles zerstört.
Er setzte das Fernglas an und schaute hinüber. Das Haus lag ruhig da. Fast erwartete er, dass dies nur eine Täuschung war und er jeden Moment alles in Aufruhr und Streit sehen würde. Doch nichts deutete darauf hin. Vielleicht hatte Selma auch bei dieser Geschichte eine ganz eigene Art, mit Problemen umzugehen. Vielleicht, überlegte er, glaubte sie ihm aber auch nur nicht. Vorhin, nach seinem Verrat, war in ihm schon mal die Vermutung aufgetaucht, dass sie ihm die Geschichte nicht so richtig abnehmen könnte. Er hatte sie mit diesen Worten verletzt, das war klar. Ihre abweisende Reaktion ging ihm nicht aus dem Kopf. Sicher, wahrscheinlich war es normal, dass man in einer solchen Situation den Überbringer der schlechten Nachricht nicht mehr sehen wollte. Aber er hatte sich ihre Reaktion trotzdem etwas anders vorgestellt. Immerhin war er der Meinung gewesen, als eine Art Vertrauter zu gelten. Nun aber fühlte er sich als Eindringling, den es aus dem Haus zu weisen galt.
Merlin saß vor dem Fenster und blätterte in einem Ordner. Offenbar schien drüben wirklich alles in Ordnung zu sein, wenn er jetzt Hausaufgaben machte. Kein Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte. David setzte das Fernglas ab. Unwillig spürte er Enttäuschung in sich aufsteigen. Sofort verachtete er sich dafür. Was hatte er erwartet? Dass drüben die Hölle losbrach und alle neu und gereinigt aus ihr hervorgingen, nur damit er sich völlig frei mit Merlin einlassen konnte? Wer sagte ihm überhaupt, dass Merlin jemals wieder ein Wort mit ihm wechseln würde? Die Chancen dafür standen zumindest denkbar schlecht, wenn er erfuhr, dass David hinter dem Verrat steckte. Und momentan schien man eher ihn als denjenigen zu sehen, der versuchte, die mühsam zusammengehaltene Familienidylle zu zerstören. Wahrscheinlich war er jetzt in ihren Augen nichts anderes, als der Spross seiner biederen Eltern. Womöglich würde Merlin da nicht mal gegensprechen, nur um sich und sein Geheimnis zu schützen.
David schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Seine Mutter hatte recht, er hatte sich verändert, und jetzt gerade erkannte er sich selbst nicht mehr. Entnervt nahm er das Fernglas auf und spähte hinüber. Nichts, außer dass sich Merlin erhob und an den Computer setzte. Das konnte er nicht richtig sehen, aber David wusste, dass an dieser Stelle der Computertisch stand. Ein paar Minuten schaute er gelangweilt zu, während er sich weiter Gedanken über sich selbst machte. Genau jetzt empfand er sich als unerträglich. Er hatte das Gefühl, sich nicht mehr leiden zu können, ja, sich selbst auf die Nerven zu gehen.
Gerade als er das Fernglas wieder absetzen wollte, tauchte der Wagen von Paolo auf. David sah überrascht auf die Uhr. Erstaunt registrierte er, dass es schon recht spät war. Er musste sicher drei Stunden geschlafen haben. Dann verfolgte er das Geschehen auf der Straße weiter. Paolo stieg aus dem Wagen. Augenblicklich fiel David wieder ein, wie er diesen Mann geküsst hatte. Es war unglaublich gewesen. Der Gedanke, dass er tatsächlich Paolos Hände auf seinem Körper gespürte hatte, ließ seine Haut kribbeln. Paolo war ein erwachsener Mann, Firmenchef und er trug einen Anzug. Wer würde jemals vermuten, dass ein solcher Mann sich für einen Jungen ... David brach diesen Gedanken ab. Natürlich interessierte sich Paolo für Jungen, nicht umsonst unterhielt er ein Verhältnis mit Merlin. Und auch hier war er schnell wieder an einem seiner neuerdings häufig auftauchenden seelischen Abgründe angelangt. Er hatte sich von Paolo küssen lassen, weil er wusste, dass diese Lippen regelmäßig auch die von Merlin berührten. Eigentlich hatte er es genossen, weil er Merlin damit eins auswischte. Natürlich war er dem auch körperlich nicht abgeneigt gewesen, aber sein Anstand wehrte sich jetzt noch vehement. Doch am Ende ging es
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