Das Meer in seinen Augen (German Edition)
konnte er sich neue Schuhe kaufen, oder die von Christian anziehen. Und seine Mutter konnte er vielleicht irgendwann ... Er beugte sich vornüber, während sein Magen sich zu übergeben versuchte.
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David saß noch immer am Fenster, als es draußen bereits dunkel wurde. Wie festgefrohren lag sein Augenmerk immer noch genau auf der Stelle, an der Merlin vorhin gestanden und ihn Hilfe suchend angesehen hatte. Warum hatte er nicht einfach gewunken? Er hätte nur ein Zeichen geben müssen und Merlin wäre zu ihm gekommen. Was seine Mutter oder sein Vater dazu zu sagen hatten, das wäre letztlich doch überhaupt nicht interessant gewesen. Sie hätten es einfach hinnehmen müssen. Doch entscheidend waren weder seine Eltern noch Merlin gewesen. Er selbst hatte sich nicht zu einer Geste aufraffen können. In seinem Kopf gab es nur diesen einen Gedanken an Paolo, der Merlin mal wieder herumbekommen hatte - und natürlich Merlin, der sich wieder mal hatte von ihm besiegen lassen. Nein, so sehr er sich auch Merlins Nähe wünschte, so schmerzlich es ihm gerade vorkam, Merlin nicht zu sich geholt zu haben, so sehr wollte er ihm seine Hilfe auch versagen. Dabei hätte genau diese Situation der neue Start für ihre Beziehung sein können. Merlin war von zu Hause geflüchtet. Seine Welt brach für ihn zusammen und es gab nur noch diesen einen Weg nach vorn. Warum hatte er nicht reagiert und ihm ein Zeichen gegeben, dass er hier auf ihn wartete? Dann müsste er jetzt nicht allein am Fenster darüber nachdenken, was er heute alles falsch gemacht hatte. Sie hätten sich von ihrem Chaos ausruhen können. David hätte die Tür zu seinem Zimmer einfach abgeschlossen und sie wären erst wieder nach draußen gegangen, wenn der Sturm sich gelegt hätte. Aber das hatte er in dem Moment, da er Merlin vollkommen hilflos dort unten hatte stehen sehen, nicht gewollt. Eigentlich unbegreiflich. Trotzdem, so war es gewesen. Er hatte es einfach nur genossen, dass Merlin nun dafür bezahlte, dass er ihn betrogen hatte, dass er nicht stark genug war, um Paolo zu widerstehen. Für dieses Gefühl schämte David sich vor sich selbst. Wie konnte er sich nur wünschen, dass sein Freund, der Junge, mit dem er zusammen sein wollte, eine Niederlage erlitt, nur damit es ihm selbst besser ging? Das Schlimmste daran war, dass es ihm am Ende überhaupt kein bisschen besser ging. Dafür aber hatte er Merlin allein gelassen und seine Chance vertan, endlich alles in eine einigermaßen gute Bahn zu lenken.
David seufzte. Eine Stimme in ihm sagte ihm, dass er es so oder so nicht hätte abwenden können. Früher oder später hätte Merlin schon erfahren, dass er dieses ganze Spektakel ihm zu verdanken hatte. Da würde es sicherlich keinen Unterschied machen, wenn er ihm jetzt half. Er war derjenige, von dem Selma die Wahrheit wusste. Er war derjenige, der Merlin die Möglichkeit genommen hatte, das ganze Chaos selbst zu beenden. Allerdings, und da musste sich David in Schutz nehmen, hatte Merlin auch genügend Zeit gehabt, seine schmutzige Wäsche selbst zu waschen. Doch die Zeit war ungenutzt verstrichen und statt das Theater zu beenden, hatte er sich immer wieder auf Paolo eingelassen. Jetzt war es zu spät.
David setzte das Fernglas wieder an. Drüben lag alles im Dunklen. Das letzte bisschen Abenddämmerung ließ ihn aber erahnen, dass Selma noch immer auf dem Bett ihres Sohnes saß. Vielleicht war es aber auch nur eine Täuschung. Konnte ein Mensch so lange fast ohne jegliche Regung sitzen und über das Geschehene nachdenken? Dann fiel ihm ein, dass er selbst nichts anderes tat. Er hatte sich kein Stück gerührt seit Merlin vorhin die Straße hinuntergelaufen war. Worauf wartete er eigentlich? Anstatt immer und immer wieder die Situation durchzuspielen, die er nun eh nicht mehr ändern konnte, könnte er sich lieber einfach vor den Fernseher setzen und versuchen, zumindest für einen Moment alles zu vergessen. Oder er könnte ein Buch lesen. Aber er wusste schon jetzt, dass nichts dergleichen wirklich funktionieren würde. Also blieb er sitzen und dachte nun darüber nach, warum er eigentlich hier sitzen blieb. Nach einer Weile wurde es ihm klar. Er saß nicht wie Selma fest, weil er so geschockt war, sondern schlicht und einfach, weil er wartete. Er wartete, dass Merlin wieder zurückkam.
Aber Merlin kam nicht zurück. Daran änderte auch die unaufhaltsam voranschreitende Zeit nichts. Es wurde immer dunkler und schließlich Nacht. Doch Merlin kam nicht
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