Das Meer in seinen Augen (German Edition)
wollte bereits umdrehen und die Tür öffnen, doch sie hielt sich zurück. Wie wollte sie reagieren? Sie musste diese Frage vorher klären. Was war, wenn sie Merlin und Paolo tatsächlich überraschte? Sie musste sich darauf einstellen, dass dieser Alptraum tatsächlich wahr wurde. Mit Paolo hatte sie bereits abgeschlossen, aber was war mit Merlin? Ihren Sohn konnte sie nicht so einfach loswerden und er würde auch weiterhin ihr Sohn bleiben, egal, was er gerade tat. Nur, sollte sie tatsächlich probieren, verständnisvoll zu sein? Das konnte sie nicht, nicht in einer solchen Situation.
Ihre Hand drehte sich plötzlich. Ein leises Klicken entriegelte die Tür, ohne dass sie es wirklich wollte. Aber ihre Hand hatte recht. Es brachte nichts, jetzt hier draußen zu stehen und ewig lang darüber nachzudenken, wie sie handeln würde. Sie musste hinein und mit dem kämpfen, was sie vorfand. Und wenn sie nichts vorfand, dann musste sie es ansprechen. Sie musste es einfach wissen. Ihr Herz hoffte, dass es keine weitere Enttäuschung erleben musste.
Sie zog die Tür auf und gab sich Mühe, leise zu sein. Ihre Tasche ratschte aber an der rauen Hauswand vorbei. Augenblicklich blieb sie stehen und lauschte. Es war nichts zu hören. Sie betrat das Haus. Am Ende des Flurs lag das Wohnzimmer dunkel da. Paolo musste also entweder im Keller oder oben sein. Selma ließ die Haustür einfach offenstehen und stellte ihre Tasche mitten im Flur ab. Auf leisen Solen ging sie zur Treppe und horchte hinauf. Kaum hörbar vernahm sie einen unterdrückten Laut. Ihr Herz beschleunigte sich. Schweiß trat auf ihre Stirn. Eine naive Stimme in ihr versuchte sie davon zu überzeugen, dass Merlin sicher nur mit jemanden telefonierte. Dann wurden sämtliche Erklärungsversuche aber auf einen Schlag vernichtet, als ein lauter Aufschrei von oben zu ihr hinunterdrang. Diesen Schrei kannte sie. Sie hatte ihn schon oft genug selbst gehört, als sie mit Paolo beisammen lag und er - und er - Sie verlor den Halt und taumelte zur Seite. Ihre Finger glitten an der Wand vorbei und betätigten den Lichtschalter bevor sie auf den Handlauf der Wendeltreppe aufschlugen und sich festklammerten. Wie aus weiter Ferne hörte sie einen erneuten Schrei. Dann wesentlich näher ihr eigener Laut, der klang, als bräche sie unter unvorstellbaren Schmerzen zusammen. Sämtlicher Sauerstoff hatte mit einem Mal ihren Körper verlassen und vor ihren Augen tanzten schwarze Schmetterlinge auf und ab. Dann gab es einen Riss und auf einen Schlag war sie wieder da. Vor ihr die Treppe, die sie nach oben führte. In ihrem Kopf gab es nur diesen einen Gedanken: Nach oben! Und Selma stieß sich nach vorn, während ihre Füße die Stufen meisterten, die Beinmuskeln sie immer weiter nach oben trugen und ihre Hände ganz knapp einen Sturz verhinderten.
Dann brach sich endlich ihr eigener Schrei einen Weg nach draußen: »Paolo!« Sie wusste in diesem Moment nicht recht, was für einen Sinn es machte, den Namen des Mannes zu rufen, den sie gerade mehr verachtete als irgendwas anderes auf der Welt. Aber sie schrie noch mal. »Paolo!«
Vor ihren Augen verwackelten die Wände und Türen wie in einem aktionreichen Lauf mit der Handkamera für einen von Paolos blöden Fernsehfilmen. Langsam schob sich Merlins Tür ins Sichtfeld und gab immer mehr vom Zimmer preis. Selma taumelte fast daran vorbei. In ihr schrie alles, dass sie sich einfach fallen lassen sollte, damit sie nicht sehen musste, was sie nun sehen würde. Das Bett tauchte auf. Sie fing sich mit den Armen am Rahmen ab und stand vor einem verwischten Etwas, das einmal Merlins Zimmer gewesen war. Nichts gehörte da hin, wo sie es gerade sah - und mittendrin Stücke nackter Haut. Sie schloss die Augen. In ihrem Kopf drehte es sich kurz noch ein Stück weiter. Dann hielt der Schwenk an. Als sie die Augen wieder öffnete, stellte sie zu ihrem Schrecken fest, dass sie wieder richtig sehen konnte.
Vor ihr stand Paolo, nackt. Sein Gemächt stand noch prall von ihm ab und sein Grinsen zeigte ihr Befriedigung. Sie blendete ihn einfach aus.
Merlin hatte das Bettlaken um sich geschlungen. Sein Gesicht war rot und verschwitzt - oder verheult?
»Merlin«, sagte sie brüchig. Aber er reagierte nicht auf sie. Hastig sprang er vom Bett hinunter, trat auf eine Ecke des Lakens und fiel hin. Sie hörte ein Schluchzen.
»Was macht ihr hier?«, hörte sich Selma fragen, obwohl sie auf all das schon längst die Antwort von David bekommen hatte. Warum
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