Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Meer in seinen Augen (German Edition)

Das Meer in seinen Augen (German Edition)

Titel: Das Meer in seinen Augen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L.B. Roth
Vom Netzwerk:
fragte man in Situationen, die die eigene Vorstellungskraft überstiegen, immer so einen Mist?
    Sie hörte Paolos Stimme und sah ihn wieder für einen Augenblick. Aber sie verstand nicht, was er ihr sagte. Es interessierte sie auch nicht. Paolo war gestorben. Er war tot. Dann tauchte sein Gesicht trotzdem vor ihr auf. Plötzlich rissen sich ihre Hände von den Türpfosten los und schlugen auf ihn ein. Sie traf ihn mit der rechten Hand schallend auf die Seite. Die Linke verfehlte ihn knapp, aber zwei ihrer Fingernägel rissen ihm die Haut auf der Stirn auf. Dann war Paolo wieder verschwunden. Es gab ein Flackern vor ihren Augen und weg war er.
    Ihre Beine trugen sie wackelig weiter ins Zimmer. Merlin weinte. Sie wollte ihn trösten, aber er lief vor ihr weg. Sie sah ihm stumm hinterher und beobachtete, wie er Sachen von seinem Schreibtisch zusammensuchte und in eine Tasche steckte. Auch aus seinem Kleiderschrank riss er scheinbar wahllos etwas heraus. Dann trat er wieder auf das Laken und entblößte sich. Ein Schluchzen drang an ihre Ohren. Er ließ das Laken liegen und flüchtete. Selma blieb.

    106

    Merlin rannte nackt die Treppe hinunter. Er hoffte, dass seine Mutter ihm nicht folgen würde. Das Schlimmste was hätte passieren können war geschehen. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit gewesen. Die Tatsache, dass es gerade jetzt geschehen war, als Merlin seine Chance zur Aufklärung vertan hatte, tat besonders weh. Dieser Tag war von Anfang an dazu verurteilt zu scheitern, das hatte er doch gespürt. Doch er hatte nicht auf sein Gefühl gehört. Ein Gespräch wäre natürlich ebenfalls unangenehm geworden, schließlich hätte er sich mit seiner Mutter auseinander setzen müssen. So jedenfalls war das eingetreten, wovor er letztlich noch mehr Angst gehabt hatte: Sie hatte ihn bei seinem Betrug erwischt.
    Unten warf Merlin seine Tasche hin und rammte seine Beine erst mal in eine Jeans. Eilig knöpfte er zwei der sechs Knöpfe zu, dann riss er sich ein Shirt über. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er seine Schuhe oben vergessen hatte. Bei dem Gedanken, noch mal hochzumüssen und seine Mutter immer noch am Tatort stehen zu sehen, schossen ihm wieder die Tränen in die Augen. Verdammte Scheiße, bekam er denn nicht mal eine Flucht hin? Wieso hatte er nicht einfach heute Mittag mit ihr geredet? Überhaupt, warum waren Menschen so gestrickt, dass sie etwas Unangenehmes nur schwer aus eigenem Antrieb auf sich nahmen und stattdessen lieber auf das Schicksal warteten, das eigentlich grundsätzlich Schlimmeres für sie bereithielt? Vor dieser Situation jetzt hätte er sich schützen können. Das Ganze war allein seine Schuld. Doch er hatte die Wahrheit lieber so lange wie möglich zurückgehalten, um noch ein wenig Zeit zu gewinnen. Nur wofür? Es war nicht mal gewonnene Zeit, weil er sich immer wieder Gedanken über seinen Betrug hatte machen müssen. Dennoch war es ihm viel zu schwer gefallen, seiner Mutter die Wahrheit zu sagen. Dabei wäre es ihr letztlich sicher auch lieber gewesen, es von ihm zu hören, anstatt es selbst erleben zu müssen.
    Paolo tauchte plötzlich in der Wohnzimmertür auf. Merlin hatte gar nicht gemerkt, dass er sich dort im Dunklen versteckt hielt. Warscheinlich wollte er auch flüchten. Doch als Merlin ihm ins Gesicht sah, fand er lediglich das typisch gehässige Grinsen vor, dass Paolo so gern auflegte.
    »Ich glaube, ich hole wohl besser mein Kopfkissen runter, was?«, sagte Paolo locker und zwinkerte ihm zu.
    Merlin musste würgen. Krampfartig krümmte er sich vor und übergab ein wenig Flüssigkeit auf den Fliesenboden.
    »Das machst du aber noch weg, bevor du gehst!« Paolo deutete auf das Erbrochene. »Damit wir uns verstanden haben. Deine Mutter hat jetzt andere Sorgen, als sich um deinen Mist zu kümmern.«
    Merlin würgte wieder. Das alles kam ihm so unwirklich vor, als befände er sich genau jetzt in einem Geisterhäuser auf der Kirmes. Nichts schien noch real zu sein. Alles machte plötzlich überhaupt keinen Sinn mehr. Was redete Paolo da eigentlich? Wie konnte er in Anbetracht der Situation überhaupt noch ein Lächeln zustande bringen? Merlin drehte sich von ihm weg und griff seine Tasche vom Boden. Taumelnd lief er zur Tür, die noch immer offen stand. Auch das war eine Sache, die absolut nicht passte. Ein Haus, dessen Tür einfach so offen stand - das konnte doch nichts anderes bedeuten, als dass etwas Schreckliches passiert war. Für einen Moment blitzte in Merlins Kopf die

Weitere Kostenlose Bücher