Das Meer in seinen Augen (German Edition)
nicht unterbrechen. Die Angst vor dem unbekannten Leben kam wieder hoch. David würde hier bleiben und sein Leben einfach weiterleben. Doch er musste sich von grundauf neu einrichten. Er hatte das Gefühl, sowas nicht mehr ertragen zu können. Er war kein kleines Kind mehr.
In seinen Gedanken verloren stieg er in die Straßenbahn, die ihn geradewegs über die Einkaufsstraße durch die City führte. Überall sah er Menschen, die sich über nichts anderes Gedanken machen mussten, als ihren nächsten Einkauf oder ob sie es noch rechtzeitig zur Arbeit schafften. Wie gern würde er jetzt einfach aussteigen und sich unter sie mischen. Er fuhr an dem Buchladen vorbei, in dem er immer seine Bücher kaufte. Jetzt würde er sich in Berlin einen anderen Stammbuchladen suchen müssen. Plötzlich kam ihm die Idee, dass er über das, was ihm in den letzten beiden Wochen widerfahren war, unbedingt ein Buch schreiben musste. Das war alles so unglaublich, dass es einfach festgehalten werden musste. Nur fragte er sich, wie dieses Buch enden sollte. Während die Realität ja meist nicht grade gnädig mit ihren Protagonisten umsprang, würden die Leser eines Buches sicherlich enttäuscht sein, wenn man sie um ihr gutes Ende brachte. Merlin sinnierte darüber, wie wenig Bücher es doch gab, deren Autoren doch tatsächlich den Mut hatten, den Erwartungen der Leserschaft nicht zu entsprechen. Er selbst konnte sich da nicht mal ausnehmen. Wenn er ein Buch las, dann wollte er auch ein Happy End. Nur in dieser Geschichte würde es keines geben, dachte er bitter.
An der entsprechenden Station stieg er aus. Wie würde ein gutes Ende bei einer solchen Geschichte denn aussehen, ohne dass die Glaubwürdigkeit gleich den Bach hinunterging? Definitiv konnte er sich die Wunschvorstellung abschminken, dass David ihn gleich von seinem Fenster aus zu sich hinaufwinken würde. Sowas passierte in Filmen, aber nicht im realen Leben. Und doch spürte er, dass er die Hoffnung darauf noch nicht aufgegeben hatte. Es käme einem Traum gleich, wenn er jetzt noch eine Lösung für sein Problem finden würde. Die Welt musste sich quasi auf den Kopf stellen. Davids Eltern wären plötzlich von ihm als Schwiegersohn begeistert und seine Mutter würde ihm verzeihen und zu Paolo zurück ... Nein, das war totaler Humbug!
Zehn Minuten später bog Merlin auf seine Straße ein. Er bemerkte, dass sein Herz schneller schlug. Vielleicht war das Leben ja doch nicht so weit von einem Märchen entfernt. Je näher er aber kam, desto sicherer war er, dass David auf keinen Fall aus dem Haus gerannt kommen würde, um ihn zu umarmen. In dieser Beziehung hatte seine Mutter absolut recht. Er musste den Gedanken endlich über Bord werfen, dass er irgendwann mal seinem Prinzen begegnen und mit ihm für den Rest seines Lebens glücklich werden würde. Trotzdem schaute er sehnsüchtig zu Davids Fenster hoch. Als er aber am Eingang zu Paolos Haus - ja, jetzt war es wieder Paolos Haus und nicht mehr sein zu Hause - angekommen war, schüttelte er den Kopf und trennte sich von seinen Hoffnungen. David saß jetzt sicherlich in der Schule. Wahrscheinlich war er nicht mal über den leeren Platz neben sich traurig.
Merlin stellte zufrieden fest, dass Paolos Auto nicht da war. Dann kramte er seinen Schlüssel hervor und schloss die Haustür auf. Das Haus lag dunkel vor ihm. Irritiert blieb er stehen und drückte die Tür leise wieder ins Schloss. Es kam ihm seltsam vor, dass das Wohnzimmer noch immer verdunkelt war. So ungemütlich und bedrohlich hatte er dieses Haus noch nie wahrgenommen. Dann schlich er sich durch den Flur zur Treppe. Irgendwie fürchtete er sich plötzlich davor, sich hier frei zu bewegen. Es war, als könnte jeden Moment etwas aus der Dunkelheit hervorschießen und ihn anfallen. Vorsichtig stieg er die Treppe hinauf und sah auf das Schlafzimmer, das nun wieder Paolo allein gehörte. Auch hier war es dunkel. Rasch huschte er in sein Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihm auf dem Bett lagen seine Gedichtsbände. Er schluckte. Hatte Paolo sich etwa hier hingelegt und seine Gedichte gelesen? Merlin konnte sich das kaum vorstellen. Mit einem dumpfen Knall ließ er seine Tasche auf den Boden fallen und schnappte die Büchlein und Hefte vom Bett. Die aktuellsten lagen obenauf. Hastig stopfte er seine Werke in die Tasche zu den schmutzigen Anziehsachen. Er konnte selbst nicht sagen, was er so schlimm daran fand, dass Paolo diese Gedichte gelesen hatte, aber es ... Und
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