Das Meer in seinen Augen (German Edition)
dann wusste er es plötzlich. Das waren Gedichte, die er für David geschrieben hatte und Paolo hatte sie sozusagen - entehrt? Merlin fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Jetzt nur die Ruhe bewahren und nicht durchdrehen, sagte er sich. Er sah sich kurz im Zimmer um. Es gab nicht viel, das er unbedingt mitnehmen wollte. Nach kurzem Überlegen entschied er sich, dass er als erstes mit dem Computer anfangen sollte. Er zog den Tower hervor und riss fahrig die Kabel heraus. Dann zerrte er Maus und Tastatur vom Tisch herunter und warf sie aufs Bett. Gerade wollte er den Monitor nehmen, als ihn ein Geräusch hochfahren ließ. Still blieb er stehen, beide Hände noch am Monitor. Da war es wieder! Es war definitiv das Knacken des Bettes im Schlafzimmer ... Merlin bekam eine Gänsehaut. Blitzschnell ließ er den Monitor los, als wäre er plötzlich heiß geworden und huschte zur Tür. Dann lauschte er wieder. Also war Paolo doch da, durchfuhr es ihn. Er war allein mit Paolo! Sein Blick glitt zur Wendeltreppe. Wenn er schnell genug war, konnte er vielleicht noch unbemerkt das Haus verlassen. Dann hörte er ein weiteres Knarren und unsichere Schritte. Zu spät! Merlin blieb wie angewurzelt stehen. Starr blickte er auf die Schlafzimmertür ihm gegenüber. Sein Herz schlug immer schneller und sein Hals wurde langsam eng. Innerlich versuchte er sich auf die Konfrontation einzustellen. Er nahm sich vor, einfach so zu tun, als wäre alles ganz normal. Aber Paolo würde natürlich wissen, dass er nur hergekommen war, um seine Sachen zu holen. Wahrscheinlich würde er versuchen, ihren neuen Standort aus ihm herauszupressen.
Noch während er sich eine Schreckensvision nach der anderen ausmalte und versuchte, auf alles gefasst zu sein, passierte das, worauf er absolut nicht gefasst war: David kam verschlafen aus dem Zimmer herausgetaumelt - nackt.
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Als David aufsah, schrak er zurück. Sein Mund formte sich zu einem Aufschrei, den seine Kehle nicht verwirklichen konnte. Hilflos stolperte er nach hinten und hielt sich schließlich am Türrahmen fest. Dann realisierte er erst, was hier eigentlich geschah. Wie von einem alten Geschichtenerzähler wurde alles noch mal unendlich langsam erklärt. Er war von zu Hause geflüchtet und hatte mit Paolo geschlafen. In seinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Er hatte mit Paolo geschlafen! Dann war er von Geräuschen wachgeworden, die er ganz selbstverständlich Paolo zugeschrieben hatte. Und jetzt stand er nackt vor seinem Freund.
David reagierte endlich und stürzte ins Schlafzimmer. Hastig griff er seine Klamotten vom Boden und sprang hinein. Verdammt! Merlin hatte ihn gesehen. Was sollte er ihm jetzt bloß sagen? Aber war es nicht genau das, was er eigentlich mit der ganzen Aktion bezweckt hatte? Wollte er es Merlin nicht heimzahlen?
»David ...«, keuchte Merlin hinter ihm.
David zerrte sich brutal sein Shirt über. Irgendwo riss eine Naht, aber das war ihm gerade absolut egal. Er drehte sich um und versuchte halbwegs gefasst auszusehen. Doch als er Merlins Gesicht sah, wusste er, dass er es nicht schaffen würde.
Merlin sprach nicht weiter. In seinen Augen kämpfte Entsetzen mit der Gewissheit, dass es keine andere Erklärung für diese Situation gab, als die, die er sich gerade vorstellte.
David wollte etwas sagen, wollte irgendwie ungeschehen machen, was geschehen war. Aber es fiel ihm nichts ein.
»David ...«, sagte Merlin noch mal. In seinen Augen sammelten sich Tränen und er presste die Lippen aufeinander. Die Gewissheit hatte gesiegt.
Unsicher tat David einen Schritt auf ihn zu.
»Bleib da!« Merlin streckte seine Hand vor, als könne er ihn damit auf Abstand halten.
Davids Hals wurde immer enger. Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Wie hatte er sich eine solche Situation jemals wünschen können? Nichts war von dem Rachegefühl zu spüren, dass er sich vorgestellt hatte. Es tat nur weh, Merlin verletzt zu sehen. Die Nacht mit Paolo war schön gewesen. Er hatte ihn ganz zärtlich behandelt und war erst nach und nach leidenschaftlicher geworden. Aber Merlins Anblick ließ diese Erinnerung wie einen unechten Kristall zerbröseln. Plötzlich wusste David, dass seine Rache eigentlich ihn selbst traf. Er wollte Merlin für seinen Betrug bestrafen und hatte sich selbst zu einem hinreißen lassen.
»Merlin«, sagte er matt, »ich - ich ...« Seine Stimme versagte.
Merlin schüttelte den Kopf und drehte sich um. David starrte noch eine Weile
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