Das Meer in seinen Augen (German Edition)
Augen. »Was hat das ...«, begann er, konnte sich aber im letzten Moment noch bremsen. In ihm war mit einem Mal alles in Alarmbereitschaft. Irgendwas stimmte nicht.
»Ich meine, okay, das hat mich ein wenig aus der Fassung gebracht«, fuhr Merlin fort, »aber das hätte mich eigentlich nicht hindern dürfen, danach doch noch - reinen Tisch zu machen.«
David verstand plötzlich gar nichts mehr. Zu diesem Zeitpunkt konnte Merlin doch noch gar nichts von der Verfolgung wissen. Ein dicker Klos bildete sich in seinem Hals. Demnach musste das Problem noch davor liegen. Aber da gab es nichts, was David einfiel, außer - seine regelmäßigen Fernglasbeobachtungen. Panisch sah er auf die Uhr. Es war immer noch viel zu früh, sich auf den Weg zu machen, vollkommen unglaubwürdig, jetzt einfach loszugehen. Trotzdem sprang er auf.
»David?«, fragte Merlin verblüfft. »Was hast du?«`
»Nichts«, presste David hervor. »Nichts, alles okay.«
»Mensch.« Merlin erhob sich ebenfalls. »Du klappst mir aber jetzt nicht wieder zusammen, oder?« Er fasste David am Arm und drückte ihn wieder auf die Bank.
In der Tat fühlte sich David schwindlig. Im Grunde war er froh, wieder den Bankrücken hinter sich zu haben. Das bedeutete aber auch, dass er nicht mehr flüchten konnte. Er musste sich Merlin nun stellen. Geschlagen sah er zu ihm auf.
»Was ist mit dir?«, fragte Merlin und seine Stimme klang fast ein wenig ärgerlich.
David holte tief Luft. Jetzt gab es keine Ausflüchte mehr, er musste einfach reden. Aber noch ehe er ein Wort sagen konnte, fuhr Merlin ungerührt fort: »Jedesmal wenn ich dir sagen will, dass ich schwul bin, machst du so einen Zirkus.«
Wie vom Donner gerührt erstarrte David. Hatte er das gerade richtig verstanden, oder spielten ihm seine strapazierten Sinne einen Streich? Dann fiel ihm aber wieder ein, dass Merlin ihm gestern schon mitteilen wollte, dass er schwul war. Daran hatte er nun gar nicht mehr gedacht und sich fast verraten. Plötzlich fiel eine ungeheure Last von ihm ab und er begann zu kichern.
»Was ist denn jetzt schon wieder?« Merlin klang mittlerweile genervt.
»Nichts«, sagte David und kicherte weiter. Erst als sich Merlin umdrehte und fortging, konnte er sich fassen. Eilig lief er hinter ihm her. »Warte!«
Merlin drehte sich zu ihm um. Seine großen, braunen Augen sahen ihn fragend an. David überlegte kurz, ob er ihm vielleicht die Wahrheit sagen sollte, dass er gestern umgekippt war, weil er sich unter Druck fühlte, weil er Angst hatte, sich ebenfalls outen zu müssen. Aber er entschied sich dagegen.
»Ich wollte eigentlich nicht lachen«, sagte er stattdessen. »Ich ...«. Er schüttelte den Kopf. »Ich finde es nur so saublöd, dass ich es dir so schwer gemacht habe. Sorry.«
»Also ist es okay für dich?«, fragte Merlin ruhig. Seine Stimme klang sehr geschäftsmäßig. Erneut fühlte sich David unter Druck. Steckte da eine Erwartung hinter? Er nickte zackhaft. Dann sah er aber, dass Merlin langsam wieder lockerer wurde.
»Lass uns wieder zur Bank, wir haben noch Zeit.« Merlin ging zurück und setzte sich wieder hin. David folgte ihm. Er hatte sich zu keinem Zeitpunkt Gedanken darüber gemacht, wie sich Merlin fühlen könnte. Das machte ihm ein schlechtes Gewissen. Dabei hätte er schon gestern auf die Idee kommen könnten, dass es auch für Merlin nicht unbedingt einfach sein musste, sich einem für ihn fremden Menschen anzuvertrauen, noch dazu einem, mit dem er zusammen zur Schule ging und der ihm als Nachbar tagtäglich über den Weg lief. Wenn er da an sich selbst dachte, an seine eigene Feigheit, fühlte er sich richtig schlecht.
»Ich find's okay«, sagte David platt, als er sich neben Merlin setzte. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Gleichzeitig fühlte er sich aber furchtbar verlogen. Mit diesen Worten hatte er nun die Weichen gestellt, jetzt gab es kein Zurück mehr. Merlin musste natülich zwangsläufig davon ausgehen, dass er heterosexuell war, weil sich ein Schwuler doch spätestens jetzt geoutet hätte, oder etwa nicht? Das Problem war doch letztlich immer die Ungewissheit, ob man auch als Schwuler noch akzeptiert würde. Diese Angst musste doch eigentlich wegfallen, sobald man wusste, dass der andere mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatte. Sie saßen praktisch in einem Boot. Trotzdem schaffte es David nicht, über seinen Schatten zu springen und die Wahrheit zu sagen. Stattdessen ließ er Merlin im Glauben, dass er als Normalo kein Problem mit
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