Das Meer in seinen Augen (German Edition)
überhaupt aufgemuntert werden wollte. Noch während er hin- und herüberlegte, erhob sich Merlin plötzlich, warf ein paar Sachen in eine Tasche und stürmte aus dem Zimmer. Erschrocken ließ David das Fernglas fallen und zog sich hastig an. Er hatte sich entschieden, er wollte Merlin heute auf jeden Fall noch mal sehen. Eilig verließ er sein Zimmer und stürmte die Treppe hinunter.
»David?«, rief seine Mutter sofort. Angelockt von dem Gepolter kam sie aus der Küche. »Was ist los?«
»Nichts, ich geh einfach noch eine Runde raus«, sagte David und versuchte durch das kleine Fenster in der Haustür das gegenüberliegende Haus zu sehen. Aber seine Mutter stellte sich ihm natürlich in den Weg.
»So eilig? Wo willst du denn hin? Hast du Geld dabei?«, fing sie mit dem üblichen Fragenkatalog an.
David schüttelte den Kopf. »Brauch ich nicht.« Er drängte sich an die Tür und sah kurz hinaus. Drüben lag alles so wie immer. Entweder war Merlin noch nicht raus, weil er noch was besorgen musste - vielleicht wollte er ja auch gar nicht zum Sport? - oder aber er war schon unterwegs und David hatte ihn verpasst.
»David!«, sagte seine Mutter energisch. »Sag mir jetzt sofort, was los ...«
»Nichts, Mam. Bis nachher.« Er öffnete die Tür und lief hinaus. Am Ende der Straße sah er Merlin auf die Hauptstraße abbiegen. Kurz drehte er sich noch mal um und winkte seiner Mutter zu, die völlig verwirrt in der Tür stand. Dann lief er los. Außer Atem kam er an der Hauptstraße an. Er war Merlin ein gutes Stück nähergekommen. Jetzt verfiel er wieder in einen normalen Schritt, falls sich Merlin umdrehte. Aber diese Vorsicht war gar nicht nötig, wie sich herausstellte. Merlin schien in Gedanken zu sein und seine Umwelt nicht wahrzunehmen. An der großen Kreuzung blieb er an der Ampel stehen. David hatte genug aufgeholt, um nun normal zu gehen. Fieberhaft überlegte er, ob und vor allem wie er Merlin ansprechen sollte. Sicherlich würde der etwas vermuten, wenn David ihm so hinterherlief. Oder waren diese Befürchtungen überflüssig? Immerhin wohnten sie gegenüber. Da war es doch normal, dass man sich früher oder später mal über den Weg lief.
David hatte bis auf ungefähr zehn Meter aufgeholt, als die Ampel auf grün schaltete und Merlin über die Straße ging. Er steuerte an dem flachen Bürogebäude vorbei, das David aufgrund seiner Spiegelverglasung schon bei seiner Ankunft am Sonntag aufgefallen war. Dann sah er den roten Schriftzug auf blauem Grund. Sportline. Enttäuscht stellte David fest, dass es nun zu spät war, Merlin noch anzusprechen, ohne ihm bis an den Eingang zu folgen. Er blieb stehen und wartete an der nächsten Ampel, so als ob er eigentlich weiter wollte. Merlin verschwand im Fitnessstudio, ohne sich noch mal umzusehen. Missmutig überquerte David die Straße. Auf der anderen Seite ging es links eine recht hässliche Straße hinunter. Wenn er nach rechts ging, würde er nicht lange bis zur Innenstadt brauchen, fünf Minuten vielleicht. Vor ihm aber befand sich erneut eine kleine Großstadtoase: Eine Rasenfläche mit Bank und Bäumen im Hintergrund. Neuss schien ihm auf Schritt und Tritt mit Natur durchsetzt. Er drehte sich noch mal um und begutachtete die Häuserfront des Sportstudios. In der ersten Etage befand sich eine Glasfront auf ganzer Breite. Fahrräder, Laufbänder und Stepper standen aufgereiht. Ein paar wurden von fleißigen Sportlern bedient. David grinste. Er hatte Merlin kennengelernt, als er auf einer Bank saß. Kurz entschlossen setzte er sich und wartete, ob er Merlin vielleicht von hier unten erkennen konnte. Nachdem er aber eine halbe Stunde später immer noch nicht sicher war, ob er nun ihn oder jemanden anderes in der Ferne strampeln sah, beschloss er, den Heimweg anzutreten.
Mittwoch
Sprich!
Du lässt mich
Zurück
Im Stich
Warum?
Ich frage
Warum?
Ich ...
Bleib!
Sprich!
M. Nagy
19
Merlins Wecker klingelte früher als gewöhnlich. Normalerweise stand er an Schultagen immer so knapp wie möglich auf. Aber für heute hatte er sich etwas vorgenommen. Trotzdem traf ihn das nervige Klingeln wie ein Schlag ins Gesicht. Stöhnend reckte er sich und gab dem Verlangen nach, sich doch noch mal umzudrehen. Immerhin konnte er eigentlich noch eine halbe Stunde schlafen. Dann fiel ihm der Vortag wieder ein. Mit geschlossenen Augen lag er da und dachte über seinen neuen Tischnachbarn nach. Gestern nach der Schule hatte er ihm über sich reinen Wein einschenken
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