Das Meer in seinen Augen (German Edition)
Merlins Homosexualität hatte. Bei dieser Konstellation musste er jetzt wohl bleiben, wenn er nicht riskieren wollte, vollkommen das Gesicht zu verlieren. Was würde Merlin wohl von ihm denken, wenn er in ein paar Wochen sein Schauspiel aufdecken und ihm gestehen würde, dass er sich damals ebenfalls hätte outen können? David überlegte, wie er selbst mit einer solchen Lüge umgehen würde. Im Grunde empfand er es nicht als allzu schlimm. Wenn er sich aber vorstellte, dass ihm jemand seine Beichte schwer gemacht hatte und danach nicht mal das bisschen Mut auf sich nehmen konnte, ein Geständnis abzulegen, obwohl keinerlei Gefahr drohte ... Vielleicht würde er doch nicht so gelassen sein. Er wusste es nicht. Verstohlen betrachtete er Merlin, wie er mit zusammengekniffenen Augen die Wolken am strahlend blauen Himmel studierte.
»Ich hatte irgendwie Schiss, dass du es schlimm finden würdest«, sagte Merlin leise.
David wartete einen Moment. Eigentlich wollte er gar nicht auf diese Aussage reagieren. Dann fragte er aber dennoch: »Warum?«
»Nach meiner Aktion mit den Zigarretten wollte ich einfach nicht, dass du das als Anmache verstehst und dich vielleicht irgendwie - ich meine - viele Typen würden da sicher nicht gerade locker reagieren.«
David brummte zustimmend. Er wollte das Thema, so interessant es natürlich war, nicht noch vertiefen.
Merlin sah ihn plötzlich an. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Hast du die Aufgaben für Mathe gemacht?«, fragte Merlin schnell. »Ich meine, ich fand sie jetzt nicht wirklich schwierig, ich hatte das ja auch schon. Aber ihr hattet das Thema noch nicht, oder?«
»Nein«, stimmte Merlin zu und sah ihn irritiert an. »Ich hab's aber trotzdem nicht mal angeschaut.« Er wurde mit einem Mal nachdenklich. »Ich hatte gestern - was anderes zu tun.«
David schwieg und fühlte sich komisch, weil das Geheimnis kannte.
21
Hanne schaute gedankenverloren aus dem Küchenfenster. Sie hatte sich noch nicht überlegt, was sie mit dem heutigen Tag anfangen sollte. Das Haus auf der anderen Seite lag ruhig da. Was die Frau von Ansgars Chef wohl den ganzen Tag machte? Hanne schaute sich in ihrer Küche um. Alles glänzte und war blitzblank geputzt. Vielleicht könnte sie noch mal mit dem Staubtuch durchs Haus. Aber das würde sie auch nicht den ganzen Tag beschäftigen. Für wen denn auch? Freundinnen hatte sie hier keine, die vielleicht zum Kaffee vorbeikommen könnten. Wahrscheinlich würde sie doch auf Ansgars Vorschlag zurückgreifen und sich in der Stadt etwas Hübsches kaufen. Das würde zumindest für den Anfang das Heimweh lindern. Einen Augenblick dachte sie auch daran, einfach rüberzugehen und ihre Nachbarin zu fragen, ob sie nicht Lust auf einen Kaffee hätte. Doch Ansgars komisches Verhalten hielt sie noch ab. Er hatte ihr zwar offiziell die Erlaubnis gegeben, aber Hanne spürte dennoch eine unterschwellige Hemmung. Sie wollte nicht gegen den Willen ihres Mannes handeln, egal wie unverständlich sie seine Beweggründe fand. Also musste sie sich zurückhalten. Sicher würde Ansgar irgendwann von selbst darauf kommen, dass sein Verhalten nicht angemessen war. Vorerst musste sie sich Aufgaben suchen, die ihren Tag ausfüllten. Nur, was sollte das sein? Lustlos nahm sie sich ein Staubtuch und strich es glatt. Sie hatte keine Lust, wie manche ihrer Freundinnen in Hamburg, einen Kurs für Seidenmalerei zu besuchen. Das wäre wie ein Zugeständnis, dass sie nicht mehr war, als eine kleine Hausfrau, die mit ihrer Zeit nichts anzufangen wusste. Hanne überlegte, ob sie vielleicht einen Fernkurs belegen sollte. Französisch. Wie lang war es schon her, dass sie die letzten Worte gesprochen hatte? Das würde ihr sicher Spaß machen. Aber als sie an die unzähligen Ausnahmen dachte, die sie wieder lernen müsste, schwand ihre Lust. Oder sollte sie sich eine Arbeit suchen? Ansgar hatte ihr ein wenig von dem Inkassounternehmen erzählt, für das er jetzt arbeitete. Da gab es Leute, die direkt mit den Schuldnern per Telefon sprachen und gemeinsam mit diesen Lösungswege suchten. Aber so wie Ansgar es gesagt hatte, arbeiteten dort größtenteils junge Leute. Sie wollte auf keinen Fall die alte Frau sein, der man alles fünf mal erklären musste. Und Ansgar wäre es sicher auch nicht recht, wenn sie plötzlich bei ihm in der Firma arbeiten würde. Sie hatte Angst, etwas falsch zu machen. Womöglich würde sie zum Gespött der Firma und Ansgars Ruf litt am Ende noch darunter. Nein, sie
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