Das Meer wird dein Leichentuch
nun ist Amarnis in meiner Gestalt zu dir zurückgekommen, Armand“, flüsterte ich. „Ist es mir bestimmt, die Menschen auf der Titanic vor dem Untergang zu bewahren, wenn ich mich für sie opfere?“
„Das Opfer wäre vergebens“, sagte Damian traurig. „Denn den Schicksalsstein verlangt es nach der ewigen Ruhe. Und wenn Astor ihm diese Ruhe nicht freiwillig gibt, dann wird er sie sich nehmen. Er nimmt sich die Ruhe, indem er die Titanic mit sich auf den Grund des Meeres reißt.“
„Ich kann das alles eigentlich nicht begreifen“, sagte ich nach einer Weile. „Wir fahren hier auf dem größten Schiff der Welt. Um uns herum sprüht das Leben. Und doch ist es mir plötzlich, als weile der Tod leibhaftig unter uns.“
„Du ahnungsvoller Engel!“, hauchte Damian de Armand. „Der Tod ist immer dort, wo für viele Menschen die Uhr des Lebens abläuft. Er bewegt sich gelegentlich zwischen den Todgeweihten, ohne dass sie ihn erkennen. Erst wenn ihre Augen brechen, erkennen sie den schwarzen Gast an ihrer Seite.
Auf den Schlachtfeldern der Welt tanzt er umher. Über die Leichenfelder der Naturkatastrophen wandelt er gleichmütig, und wenn Hunger oder Krankheiten die Menschen in Scharen nieder raffen, ist er mitten unter ihnen. Wenn der Sand im Glas der Lebensuhr verrinnt und die Kerze mit dem Lebenslicht verlöscht. Erkennen die Sterbenden seine wahre Gestalt.“
„Nein! Rede nicht weiter, Damian!“ wollte ich schreien. Doch meine geöffneten Lippen brachten kein einziges Wort hervor.
„Ich kreischte vor Freude, als Atlantis in den Fluten des Ozeans versank und die Städte Sodom und Gomorrha im Feuer vergingen. Ich tanzte im Feuer, das Troja verzehrte. Ich jubelte auf dem Schlachtfeld von Cannae, als Hannibal die Römer bis auf den letzten Mann abschlachten ließ. Amüsiert sah ich zu, wie Pompeji unter der Lava des Vesuvs starb. Blut und Tränen waren mein Labsal, als fünftausend Sachsen an der Aller für den Glauben an ihre Götter starben.
Ich fühlte mich wohl, als die Pest im Mittelalter wütete und im Dreißigjährigen Krieg die Völker hinweg gerafft wurden. Ich sammelte eifrig Beute, als die geplagten Menschen beim Bau der Chinesischen Mauer zu Tausenden an Entkräftung starben, und genoss es, wenn Dschingis Khans Horden keine Gnade walten ließen. Und ich feierte die rote Blutmesse, als man im Frankreich der Revolution im Namen der Brüderlichkeit die Guillotine regieren ließ.
Reiche Ernte hielt ich auf den Schlachtfeldern von Udaipur, als die Kanonen der Engländer die Krieger des Maharadscha hinweg fegten. In der Eiswüste von Russland fand ich meine Beute unter den Grenadieren Napoleons. Die Todesschreie und Sterbegebete auf den Schlachtfeldern von Gettysburg waren für mich wie eine Melodie.
Aber mein ahnender Geist sieht Kriege voraus, die Schrecklicher sind als alles, was sich die Vorstellung der Sterblichen bisher ersinnen konnte. Myriaden von Menschen werden im Stahlgewitter sterben, wenn die Hunde des Krieges losgelassen werden. Ganze Städte werden in einem einzigen Feuerblitz vergehen.
Stets war ich dabei, wenn das Stundenglas des Schicksals reiche Ernte anzeigte und die Sense geschwungen werden konnte. Ganze Völker habe ich mit dieser Sense hinweg gemäht. Und nun bin ich in menschlicher Gestalt auf der Titanic, diesem Gebilde aus Größenwahn und Hochmut. Aber so groß dieses Schiff ist - das Meer ist größer. Die Fluten des Atlantiks werden die Titanic hinab saugen und das Meer wird ihr Leichentuch. Die Menschen, die sie auf ihrer letzten Fahrt auf den Grund begleiten, ich bin es, der sie bei der Hand nehmen und ins Jenseits führen wird.
Sieh mich an, Danielle Bidois.
Sieh mich in meiner wahren Gestalt!
Der Tod fährt mit an Bord der Titanic!
Ich bin der Tod, Danielle ...!“
***
Ich erwachte in einem Bett, das im Krankenbereich stand. Mein Körper zitterte wie im Fieber. Dicke Schweißperlen glänzten auf meiner Stirn. Ich spürte, wie einer der Ärzte besorgt meine Hand hielt und den rasenden Puls fühlte.
Trotz der Spritze mit dem Beruhigungsmittel konnte ich den grausigen Anblick nicht verwischen, den meine Augen mit ansehen mussten, bevor mich eine gnädige Ohnmacht erlöste.
„Ein Steward hat diese Frau an
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