Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
Wohnung exakt beschreiben, das Muster der Tapeten und die Briefe ihrer Mutter, die auf dem Tisch lagen, den Stuhl, auf dem ihr Vater gesessen und Briefe geschrieben hatte.
Anfangs versuchte ich, gemeinsam mit dem Hauspersonal, ihr diese Halluzination auszureden, ebenso wie die fixe Idee, dass sie jetzt sofort nach unten gehen müsse, weil dort ihr schicker Sportwagen im Halteverbot parkte. Als die Phantasien immer lebhafter wurden, sie immer lauter schimpfte, wenn man ihr sagte, da sei doch gar nichts, um sich dann stundenlang stumm in ihr Bett zurückzuziehen, entdeckte ich – per Zufall – die Validation.
Die Kommunikationstechnik der Validation wurde von der deutschstämmigen Amerikanerin Naomi Feil entwickelt. Sie wuchs in Cleveland, Ohio, in einem Altersheim auf, das ihr Vater führte. Dort erlebte sie die Hilflosigkeit im Umgang mit alten, verwirrten Menschen und widmete nach einer Zeit als Off-Broadway-Schauspielerin ihr Leben der Frage, wie man mit Dementen anders umgehen könne als durch Ruhigstellen und Widersprechen.
Demenz, so Feils These, ist nicht nur eine Verlustrechnung. Sondern ein Zustand, in dem die operative Realität zusammenbricht, weil die inneren seelischen Kräfte stärker werden – im Vergleich zum sozialen Außen. Aus der Seele drängen ungelöste Konflikte an die Oberfläche. Verdrängte Verletzungen brechen auf. Unerledigtes bahnt sich den Weg. Der Mensch wird wie ein offenes Buch. Wenn jemand dieses Buch liest, kann eine Menge passieren. 1
Die Idee der Validation erklärt sich schon im Wort: Wir validieren jemanden, wenn wir seine Wirklichkeit anerkennen. Wir können ihn begleiten, statt zu bestreiten, was er empfindet. Wir
können ihm helfen, den Weg durch seine verschütteten Konflikte zu gehen.
Inspiriert durch eine gute Bekannte, die Validation seit Jahren lehrte und praktizierte, versuchte ich nun einen anderen Weg mit meiner Großcousine. Wenn sie von der Wohnung im oberen Stock berichtete, standen wir gemeinsam auf. Gingen in den Flur zur verborgenen Geheimtür.
»Was haben wir denn hier?«, fragte ich, oben angekommen (wir standen immer noch im Flur, vor einer glatten Wand).
»Schau mal, das Nähkästchen meiner Mutter. Und hier liegt Egons (so hieß ihr verstorbener Mann) Pfeife.«
»Ist das eine vielbenutzte Pfeife?«
Sie lachte. »Daneben liegt die Pfeife meines Vaters. Das erinnert mich an unsere Reise nach Beirut, als wir ein Ehepaar aus New York trafen, die eine ganze Pfeifensammlung hatten. Der Mann war ein Fabrikant von Pfeifen, die er nach Libyen exportierte, und Egon glaubte, er sei ein CIA-Spion, der Geheimnisse der Russen ausspionierte. Und da war ein netter junger Russe im Hotel, den ich im Verdacht hatte, für den KGB zu arbeiten. Eines Abends bin ich mit diesem Russen in die Bar gegangen, Egon schlief schon … und dann hat er mich so angeguckt – oh je …«
»Und dann?«
Sie kicherte.
Wir gingen hinunter zu der Stelle, wo das grüne Cabrio parkte, stiegen ein und machten einen Ausflug in die Kleinstadt, in der Christa ihre Kindheit erlebt hatte (es war ein Mietwagen-Cabrio und noch nicht einmal grün). Bei all diesen Ausflügen war sie überaus entspannt. Sie beschrieb jedes Detail. Jede Straßenecke, den Schnauzbart des Gemüsehändlers ihrer Kindheit, die Autos aus den vierziger Jahren, die Aufmärsche der NSDAP, vor denen sie sich fürchtete. Und immer wieder ihren Vater, einen sozialdemokratischen Schuldirektor, der von den Nationalsozialisten unehrenhaft entlassen worden war. Was seinen Lebenswillen brach. Sie regte sich auf, ängstigte sich – und überwand die Angst. »So, jetzt habe ich dem Nazi mit dem Regenschirm auf den Kopf gehauen!«
Immer löste sich etwas bei unseren imaginierten Ausflügen. Und immer war es zwar anstrengend, aber nicht angsterregend, vielmehr spannend und bereichernd. Eine einfache Veränderung des kommunikativen Rahmens kann alles verändern. Auch den Stress derjenigen, die helfen wollen.
2008 starb die tapfere Christa an einer Lungenentzündung. Sie wollte nicht mehr, wie diejenigen bezeugten, die sie in den letzten Tagen besucht hatten. Ich hatte eine Frau kennengelernt, die sich auf ihre Weise in einer schweren Zeit emanzipiert, gebildet und durchgesetzt hatte. Und sie hatte nie jene schrecklichen Stadien der Demenz erreicht, in denen das Leben schwindet, aber nicht vollends weichen kann.
Die Evolution der Soziotechnik
Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten benötigen wir in einer globalisierten Welt, in der
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