Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
zu wissen: dass sie an Wissen erstickt. In den Unternehmen häufen sich heute Wissensberge, die definieren, wie man es »unbedingt machen muss« – aber das eigentliche Problem ist das Entlernen alter Wissensmuster. Im öffentlichen Diskurs wird Wissen zum Trash, der an jeder Straßenecke zu haben ist. Man muss sich nur die Wissensquizsendungen anschauen, um das gigantische Missverständnis zu erahnen, das hier produziert wird. Wer den Gewinner einer Schlagerparade von 1975 kennt, hat in diesem Bezugssystem »Wissen«.
In der Ära der kreativen Kooperation geht es um etwas anderes. Die Publizistin Christine Ax spricht in diesem Zusammenhang von der »Könnensgesellschaft«, 5 in der sich kommunikative Fähigkeiten, spezielle Fertigkeiten und Wissen, das variabel Verknüpfungen schafft, auf neue Weise verbinden. Die Hierarchien von Kopfarbeit und Handarbeit werden durcheinandergewirbelt. Die Idee, dass Arbeit mit den Händen »niedriger« ist als Geistesarbeit, hatte schon immer etwas Schiefes. Ein Chirurg ist im Grunde ein hochbezahlter Handwerker, der mit Säge und Meißel umgeht, aber in lateinischer Sprache kommuniziert. Ein guter Handwerker kann, nein, muss ein Philosoph sein. Ein Geisteswissenschaftler kann auf einem scheinbar hohen Niveau ziemlich blöd sein. Der akademische Betrieb verwaltet heute nahezu hermetische, in sich erstarrte, untereinander beziehungslose Segmente von Fachwissen. Akademische Arbeiten erschöpfen sich oft genug in Querverweisen und dienen eher dem Statuserhalt als dem Wissen.
Was wir brauchen, sind Menschen, die Systeme begreifen, die nötigen »Werkzeuge« organisieren – und dann die Dinge weiterbringen. Die eine Solaranlage nicht nur aufs Dach stellen, sondern sie mit den übrigen Haussystemen verbinden können. Die einen Text verstehen, aber daraus auch einen Film machen und eine Rede formulieren können. Verknüpfer, Menschen-Koordinatoren, Könner. Putzfrauen, die den unternehmerischen Geist in sich entdecken. Ich sage nicht, dass jeder gleich dazu in der Lage sein muss. Ich sage nicht, dass das schnell kommen wird. Aber allein auf diesem Weg kann die Produktivität von morgen entstehen.
16 Die Ära der Soziotechnik
Christa K. war eine Cousine dritten Grades, von deren Existenz ich kaum noch etwas wusste. Erst als sie 2002 plötzlich Briefe an mich schrieb – in jener feinen Sütterlinschrift, die man nur in Mädchenpensionaten vor dem Zweiten Weltkrieg erlernte –, kam die Erinnerung wieder hoch. Als ich zwischen zwölf und 17 war, hatte ich sie einige Male besucht, in einer kleinen Altbauwohnung im Ruhrgebiet, wo sie mit einem winzigen Hund namens Sylvester lebte. Damals war sie um die 40. In den Wirren der Pubertät war sie mir eine Zeitlang eine Ratgeberin mit Verständnis für meine aufgewühlte Seele. Danach verlor ich sie aus den Augen.
Christa K. schrieb aus einem Altersheim, in das sie, wie sie behauptete, »illegal« eingeliefert worden war. Als ich sie dort besuchte, war sie 86 Jahre alt. Sie hatte ihren Mann ein gutes Vierteljahrhundert überlebt, sah immer noch gut aus, erzählte in ihrem witzigen Sächsisch (sie stammte ursprünglich wie meine ganze Familie aus Sachsen) von guten alten Zeiten. Aber sie war schwach. Sie aß wenig. Und wies deutliche Anzeichen von Altersdepression und beginnender Demenz auf.
Das Pflegeheim, in das sie ein alter Freund nach einem Sturz im Treppenhaus »verfrachtet« hatte, bot alles, was die anthroposophische Alterspflege zu bieten hat, vom gemeinsamen Hundestreicheln bis zum Singen und eurythmischen Tanz. In den flieder- und sonnenorangefarbenen Gängen wimmelte es von motivierten langhaarigen Pflegern und energetischen Pflegerinnen mit gutem Herzen. Und obwohl all das nicht verhindern konnte, dass die meisten Insassen mümmelnd auf ihre Teller starrten (oder auch mal mit heruntergelassenen Hosen murmelnd durch den Gang liefen), war dieser Ort wohl das Beste, was meiner Großcousine passieren konnte.
Sie sah das nicht so. Sie weinte viel. Bienchen, so hieß ihr letzter Hund, wollte nicht mehr so recht gehorchen – denn er lag schon seit drei Jahren auf dem Hundefriedhof. Und »dort hinten im Flur« war eine Tür, hinter der eine steile Treppe in eine Wohnung im Obergeschoss führte. In diesem Appartement hatten diebische Pfleger und neidische Verwandte all ihre Möbel und ihren Goldschmuck versteckt. Dort oben wohnte auch Bienchen in einem Weidenkorb und wartete auf Futter, der Arme. Meine Großcousine konnte diese
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