Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
Echtzeitmedien, war alles längst vorbei, wenn man davon erfuhr. Heute rückt es uns medial sofort auf den Leib.
Der Bürger im sonntäglichen Lehnstuhl war nicht einfach ein Ignorant. Er war Realist. Wenn er sich aufregte, ängstigte oder engagierte, änderte sich an seiner oder der Lage der Welt nicht das Geringste. Die »weite Welt« war vor der großen Vernetzung grundsätzlich autonom, sie existierte in einem anderen Zeitkontinuum. Bis – zum Beispiel – die Eisenbahn dies alles änderte. Das damit verbundene Schwindelgefühl drückte schon Heinrich Heine aus: »Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.« 3
Unsere mentale Konstitution ist durch jene Äonen geprägt, in denen ein starkes »operatives Wir« überlebensnotwendig war. Menschen sind aggressiv soziale Wesen mit hoher Kooperationsfähigkeit, die seit Urzeiten in großfamiliären Gruppen leben und »Seite an Seite« gegen Eindringlinge und verheerende Naturkräfte kämpfen.
Wer ist in der globalisierten Welt unser »Nächster«, für den wir eintreten? Die kognitive Entscheidungslast, die wir zu verarbeiten haben, steigt. Der Coping-Mechanismus 4 ist ständig überdehnt. Globalisierung schafft eine neue Kultur der Gereiztheit und Überreiztheit. Fukushima, Libyen, Kairo, Palästina, Tunesien, Lampedusa: Globalisierung bedeutet – in ihrer radikalen elektronischen Echtzeiterweiterung – eine ständige Informationshandlungskrise. Was geht mich etwas an? Wo liegen die Grenzen meines Tuns? Wollen wir wissen, wie es aussieht, wenn eine Cruise Missile sich einem Ziel nähert, bevor sie mit tödlicher Wirkung explodiert? Genau das sehen wir jetzt im Fernsehen, rund um die Uhr, und es macht uns verrückt. Die Folge ist jene Hysterisierung der Öffentlichkeit, die ständig zwischen Erregung, Ignoranz, Jammern, Anklage, Forderung, Moralismus und Zynismus hin- und herschwankt. Krise ist überall. Die Welt geht unter. »… Es ist dies das Zeitalter der Angst, weil die elektrische Implosion uns ohne Rücksicht auf ›Standpunkte‹ zum Engagement und zur sozialen Teilnahme zwingt«, schrieb der magische McLuhan schon 1965 in seinem Buch »Die magischen Kanäle«.
Als der deutsche Soziologe Ulrich Beck im Jahr 1986 das Buch »Risikogesellschaft« veröffentlichte, war einer jener süffigen Welterklärungsbegriffe geboren, die sich im Sprachgebrauch durchsetzen, weil sie einfach verdammt gut klingen. Die globale Moderne, so Becks gierig aufgenommene Grundthese, produziert unentwegt gesteigerte Risiken für das Individuum. Auch wenn das gar nicht stimmt – unsere heutige Welt ist so sicher und friedlich wie keine vor ihr –, ist unser medial entzündetes Hirn doch nur allzu bereit, es zu glauben. Derartiger Informationsüberfluss erzeugt auf Dauer die Gewissheit, dass alles immer schlimmer wird. Kombiniert mit unserem inzwischen soliden Hedonismus wird der apokalyptische Spießer zur zentralen Figur unserer Zeit. Getrieben von Ängsten, geschüttelt von ständigem Verlustgefühl, weder willens noch fähig zu Veränderungen, sehnt er sich nach der glorreichen alten Zeit zurück. Auch wenn es diese nie gab.
Sehnsucht nach Grenzen, Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit
Schon in der melancholischen Biedermeier-Erzählung »Nachsommer« des Romantikers Adalbert Stifter, erschienen 1857, wird die Globalisierung als dunkle, irritierende Drohung am Horizont der Weltgeschichte gezeichnet:
»Jetzt kann sich eine kleine Landschaft mit dem, was sie hat, was sie ist, und was sie weiß, absperren: bald aber wird es nicht mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen werden. Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das, was der Geringste wissen und können muss, um vieles größer sein als jetzt. Die Staaten, die sich dieses Wissen zuerst erwerben, werden an Reichtum und Macht und Glanz vorausschreiten, und die anderen sogar in Frage stellen können.«
In diesem Zitat findet sich alles, was wir als »Heimatgefühl« kennen, im Widerspruch zum Menetekel des Universellen. Eine Sehnsucht nach Abgrenzung, die nicht in Frage gestellt werden kann. In der ruppigen Variante entsteht so Aggression gegen den »Nestflüchtling«, der sich einbildet, dieses stille Tal verlassen zu können. Oder gegen den Fremden, der die Idylle stört.
Grenzen sind sinnvoll. Sie markieren die Ränder von Prozessen, von Wahrnehmungen, von Systemen. Es klingt
Weitere Kostenlose Bücher