Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
zu Gefühlen transformieren. Nach António Damásio, dem derzeit wohl bekanntesten Kognitions- und Hirnforscher, unterscheiden sich Emotionen von Gefühlen. Emotionen sind durch die Evolution geformte Abläufe in unseren endokrinen Systemen; automatisierte Programme, die uns zu Handlungen der Vermeidung oder des Gewinns veranlassen sollen. Angst, Wut, Scham, Ekel. Gefühle hingegen sind emotionale Wahrnehmungen in Korrelation mit Gedanken, Wertungen, Einordnungen. Individualisierung bedeutet als »mentale Kulturtechnik«, dass wir unsere Emotionen in eine Selbstwahrnehmung einbetten, einhegen, ohne sie zu »überwinden« oder nur zu »kontrollieren«. Reife Individualität bedeutet zum Beispiel, dass ich Angst empfinden kann, ohne »Angst zu sein«, oder Wut empfinden kann, ohne diese Emotion absolut zu setzen. Wenn man so will: Gefühle sind bewusste Emotionen. Die Umformung von Emotion und Gefühl ist so etwas wie die Grundtechnik der Individualisierung.
Die Choreografie schreiben: Individualisierung bedeutet, seine Entscheidungen zu verantworten. Und Entscheidungen schließen immer andere Optionen aus. »Wie schade, dass man die wichtigsten Entscheidungen des Lebens, Beruf und Lebenspartner, nicht am Ende des Lebens trifft«, formulierte einst George Bernard Shaw. Aber »richtige« Entscheidungen wird es nie geben. Wir können jedoch eine Haltung entwickeln, die die Nichtreversibilität anerkennt, aber das Scheitern und auch den Zufall zulässt: »Ich habe geheiratet, diesen Job angenommen, mich scheiden lassen. Ich habe Antworten auf meine Fragen bekommen, aus denen sich neue Fragen ergeben. Heute stehe ich an diesem Punkt und werde versuchen, zu verstehen, was das bedeutet…«
Das Netzwerk formen: Individualität heißt schließlich, die Bedeutungen der sozialen Bindungen zu verstehen. Jeder Mensch hat ein Netzwerk, das ihn am Leben erhält. Dieses Netzwerk existiert selbst, wenn die Personen, die seine Knotenpunkte bilden, tot oder nicht anwesend sind. Individuen sind wir nur im sozialen Raum, in der Rückkopplung mit anderen – andernfalls sind wir Monaden, isolierte Einheiten, die keine Vorstellung von sich selbst entwickeln können. Individualisierung besteht in einem Schleifenprozess. Weggehen – und ankommen. Weggehen, um anzukommen. Sich lösen, um sich zu binden.
Aber verfügen Menschen über genügend Selbstveränderungsfähigkeiten? Sind »wir« überhaupt in der Lage zu jener Kulturtechnik, die Individualisierung im Kern ausmacht: erfolgreiche Lebenssteuerung? Der Standard-Negativsatz lautet: Sind wir nicht alle in einer immer komplizierter werdenden Welt als Individuen völlig überfordert?
In Wahrheit ermöglicht uns erst eine »komplizierte Welt« den Prozess der Selbstfindung. Denn eine einfache, unkomplizierte, nicht widersprüchliche Welt würde uns noch nicht einmal auf den Gedanken kommen lassen, dass wir andere werden könnten! Das Missverständnis – und die Überforderung – entsteht immer da, wo ein elitärer Individualismusbegriff entsteht. Das Ziel von Individualisierung kann nicht das alte, heroische Ich-Ideal sein, worunter man ehedem einen »konsistenten Charakter« verstand, ausgestattet mit »stählernem Willen« und dem Anspruch, allezeit vollständig über Entscheidungsgewalt zu verfügen.
Der Woody-Allen-Kosmos deutet uns die Individualisierung als eine ständige Folge von Irrungen. A. hat sich in E. verliebt, weil sie sich von F. nicht geliebt fühlt, E. aber treibt es mit einer alten Freundin von ihr, der sie gerade einen lebenswichtigen Gefallen getan hat. Der unzufriedene Ehemann X. schaut aus dem Fenster sehnsuchtsvoll auf die schöne Nachbarin im roten Kleid; als er sie in einem Slapstick-Drama erobert hat, zieht er bei ihr ein. Nur um dann, von der anderen Seite des Hofes sehnsuchtsvoll auf seine Ex-Ehefrau zu schauen. Individualität, so wird uns hier suggeriert,
ist die Verwandlung des Lebens in eine Abfolge tragikomischen Scheiterns. Da in der modernen Welt der Freiheit alles eine Entscheidungsfrage wird, spielt der Zufall schließlich die entscheidende Rolle. Wo wir alles entscheiden können und müssen, bleibt am Ende immer nur die Sehnsucht nach dem, was gerade nicht ist. Denn jede Entscheidung macht unwiderruflich eine andere zunichte. Dagegen hilft nur der Humor. Humor bringt uns mit der Welt wieder ins Reine. Humor ist in der Tat die womöglich wichtigste Selfness-Technik. Wer Humor hat, kann die ewigen Widersprüche der Welt erlösen, indem er sie auf
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