Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
und selbst wenn er die meiste Zeit seines Lebens pleite war, steckten nicht selten Schecks in den Umschlägen. Als nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Deutschen Reich Juden, Sozialisten, Kommunisten aus akademischen Positionen vertrieben wurden, wandte sich Schumpeter in unzähligen Briefen an amerikanische Universitäten, Organisationen und Stiftungen und empfahl ihnen jüdische und aus anderen Gründen verfolgte deutsche Sozialwissenschaftler. Er war großzügig und zerstreut, präzise, zynisch, menschenfreundlich, arrogant und sentimental. Seine Lieblingsgeschichte handelte von seinen drei Zielen im Leben: der beste Liebhaber Wiens, der beste Reiter Europas und der größte Ökonom der Welt zu werden. Zwei Ziele habe er erreicht, erzählte er immer wieder, aber leider habe er nur einen zweitklassigen Sattel geerbt. 3
Schumpeter, der Weltbürger mit dem Borderline-Syndrom, der tragische Wanderer zwischen den Welten, der eloquente Narzisst, nahm den Staffelstab, den Kondratieff fallenlassen musste, auf und schuf eine evolutionäre Theorie des ökonomisch-gesellschaftlichen Wandels. Als einer der ersten Ökonomen beschäftigte er sich mit den Verschränkungen zwischen Wirtschaft, Anthropologie und Evolution. In seinem Hauptwerk »Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie«, das 1942 zuerst auf Englisch erschien, formulierte er:
»Die Eröffnung neuer, fremder oder einheimischer Märkte und die organisatorische Entwicklung vom Handwerksbetrieb und der Fabrikzu solchen Konzernen wie dem U.S.-Steel illustrieren den gleichen Prozess einer industriellen Mutation – wenn ich diesen biologischen Ausdruck verwenden darf –, der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert*, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozess der ›schöpferischen Zerstörung‹ ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Darin besteht der
Kapitalismus und darin muss auch jedes kapitalistische Gebilde leben. (* Diese Revolutionen sind nicht eigentlich ununterbrochen; sie treten in unsteten Stößen auf, die voneinander durch Spannungen verhältnismäßiger Ruhe getrennt sind. Der Prozess als ganzer verläuft jedoch ununterbrochen – in dem Sinne, dass immer entweder Revolution oder Absorption der Ergebnisse der Revolution im Gange ist; beides zusammen bildet das, was als Konjunkturzyklus bekannt ist.)« 4
Schumpeter nahm viele Erkenntnisse der Spieltheorie und der Verhaltensökonomie bis hin zur Evolutionspsychologie vorweg. Dabei war es vor allem seine Exzentrik, die ihn vor den Sogwirkungen der Ideologien von links und rechts schützte. So entwickelte er eine spannende Mischung aus Marktradikalismus und menschlichem Sozialismus. Er sah den Untergang des Kapitalismus kommen, aber was er unter »Kapitalismus« verstand, war eher ein Versagen des lebendigen Marktes. Er unterschied in »Kapitalisten« und »Unternehmer«. Er sah zwei fundamentale Kräfte im ökonomischen Prozess am Werke: einerseits Sehnsucht und die Energie der Gestaltung und Erneuerung, andererseits die brutalen Gesetze der Kapitalakkumulation. Aus den immerwährenden Turbulenzen zwischen diesen Megakräften, so sein Weltbild, entsteht das Neue, die Zukunft und der Fortschritt.
Die richtigen Fragen stellen
Was haben uns ein halb vergessener russischer Ökonom und ein exzentrischer Lebemann mit Hang zu pathetischen Gesten heute noch zu sagen? Lassen sich Kondratieffs und Schumpeters Erkenntnisse auf die heutige Situation einer weniger polarisierten, dafür aber umso dichter verknüpften Welt übersetzen? Was haben sie mit den Megatrends zu tun? Und vor allem: Lassen sie sich als Vorhersageinstrument nutzen?
Zunächst einmal müssen wir uns einer Frage widmen, die im zweiten Teil nicht ausführlicher angesprochen wurde: Ist »Technik« ein Megatrend? Gibt es technologische Entwicklungen, die unserer
Definition von Megatrends – ubiquitäre, alle gesellschaftlichen Bereiche beeinflussende, ganzheitliche Wandlungsprozesse – entsprechen können? Kondratieffs Zyklen waren ja genau das: In ihnen veränderte Technologie menschliche Organisations- und Lebensformen. Der »Megatrend Eisenbahn« war Teil des Megatrends Mobilität zu einer bestimmten historischen Epoche, ebenso wie das Auto. Wird es uns gelingen, auch in Zukunft solche fundamentalen Techniktrends, die die Dimension echter Megatrends annehmen, auszumachen?
Eine wichtige Botschaft der beiden Ökonomen lautet: Krisen sind
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