Das Merkbuch
AG Spinnfaser Aktiengesellschaft Kunstseiden-Aktiengesellschaft«.
Der Notizkalender als Werbegeschenk ersparte es Vater, das Büchlein käuflich zu erwerben (bei C. Autenrieth in Stuttgart, in irgendeinem Münchner Schreibwarengeschäft, wo der katholische Kalender für das Jahr 1952 erstanden wurde).
Der wachsende Wohlstand der Bundesrepublik, hier manifestiert er sich darin, dass ein Unternehmen wie die Vereinigten Glanzstoff-Fabriken den Geschäftsfreunden zum Jahreswechsel ein Geschenk macht, den Kalender des kommenden Jahres. Kein kostbares Geschenk erhält Vater – gewiss gruppierten sich die Geschäftsfreunde nach ihrer Relevanz für das Unternehmen, und diejenige Vaters war gering. In der nächsten Etage bekam man bereits einen Füllfederhalter, in der übernächsten eine feine Aktenmappe (und so weiter).
Die zweite Seite des Merkbuches für 1954 – das sich selbst keinen Namen gibt – zeigt die Stadtwappen von Oberbruch, Kassel, Wuppertal, Kelsterbach und Obernburg in Umrisszeichnung; auf der nächsten Seite geben die Einzelunternehmen ihre Postadressen an (die den durch ihre Stadtwappen repräsentierten Orten nicht entsprechen). Dann folgt eine Liste mit den Produkten der Vereinigten Glanzstoff-Werke.
»Reyon für alle Sparten der Textilindustrie. Perlon, das neue vollsynthetische Textilmaterial in Flocke und Fäden. Kordreyon, Kordzwirn und Kordgewebe für Reifen und andere technische Einsatzgebiete. Semproform für die Polsterindustrie. Flox-Zellwolle für jeden Verwendungszweck in der Baumwoll-, Woll-, Jute-, Flachs- und Teppichgarn-Spinnerei. Spezialgarne: Rohe und gefärbte Reyon- und Zellwollgarne in jeder gewünschten Aufmachung; Effektzwirne und Mischzwirne aus Reyon und Zellwolle; Zwirne und Mischzwirne für alle Verwendungszwecke aus Perlon; Industrie-Nähzwirn Bicotin für die Trikotagenindustrie.«
Die nächste Seite des Kalenders präsentiert eine Zeichnung: Vom Globus lösen sich die Breitengrade ab, zunächst als konzentrische Kreise, dann in Schlangenlinie, die in eine schön gestaltete Kursiv-Schrift ausläuft: »Glanzstoff-Fäden umgarnen die Welt!«
Glanzstoff, das ist ein anderes Wort für Poesie, möchte man fantasieren, Glanzstoff-Fäden umgarnen die Welt, das ist ein Bild der progressiven Universalpoesie, die seit den Fünfzigern unwiderstehlich sich ausbreitet, die Weltsprache der modernen Dichtung . . .
Glanzstoff, auch Kunstseide genannt, das geht auf die Erfindung von Max Fremery und Johann Urban zurück, einen Chemiker und einen Ingenieur, die 1897 ein Verfahren zum Patent anmeldeten, wie man Fäden aus Zellulose und Kupferoxid-Ammoniak herstellt; sie selbst verwendeten diese Fäden in der Produktion von Glühlampen.
So kommt der Glanz in den Stoff, möchte man fantasieren, die Poesie vermählt sich mit den Strahlen des elektrischen Lichts . . .
So beteiligte sich Vater, bei den Vereinigten Glanzstoff-Werken arbeitend, am Aufbau der Plastikwelt, die seit den fünfziger Jahren, sagen die Kulturkritiker, die natürliche, die wirkliche Welt überwuchert, Reyon, Perlon, Zellwolle, Nylon, Dralon, Diolen, Resopal. Statt Wolle und Baumwolle, Seide, Leder, Holz. Als wäre der Kunststoff mächtiger, lebenskräftiger als alle Natur. Der Urwald der modernen Zivilisation – Vater half mit bei seiner Ausbreitung, indem er die Bücher der Spinnfaser/Kassel prüfte (unterdessen Teil der Vereinigten Glanzstoff), damit die Expansion korrekt vor sich gehe, kein Schmu in den Bilanzen, kein blindes, formloses Wuchern.
Ob Vater als Gegengabe zu dem Werbegeschenk des neuen Notizkalenders diesen (bescheidenen) Reklamemaßnahmen irgendeine Aufmerksamkeit widmete und sich von den Glanzstoff-Fäden umgarnen ließ? Die Stadtwappen von Oberbruch, Kassel, Wuppertal, Kelsterbach, Obernburg studierte sowie die Produktliste? Das musste man lernen in der frühen BRD , dass die Reklame, die Werbung, die einen fortlaufend zu umgarnen versuchte, ignoriert werden kann. Dass die Werbung sich ausbreitet, obwohl sie keine Wirkung zeigt.
Mutter ließ sich von Vater die Reklameseiten des neuen Notizkalenders zeigen und erläutern; sie lernte ja die Kunstseide in der Gestalt von Strümpfen, Unterwäsche, Kleidung praktisch kennen und erfreute sich daran, dass ihr Ehemann von Berufs wegen damit befasst war. Der Sohn hörte gleichfalls aufmerksam zu; der Gedanke, dass man aus Plastik schlechterdings alles formen kann, befeuerte ihn in seinen Schöpfungsfantasien.
Bevor in dem neuen Merkbuch die Seite
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