Das Merkbuch
erscheint, auf die Vater seinen Namen und seine Adresse schreibt – keine Telefon- oder Versicherungsnummer –, findet er eine Umrechnungstabelle. Sie lehrt, wir beschränken uns auf die erste Zeile, dass zehn Denier die metrische Nummer 900 ergeben; in der Lauflänge, wenn es um Meter in Kilogramm geht, 900 000, wenn es um Yards in Pounds geht, 446 652 ergeben, wobei die englische Lauflänge für Baumwolle 531,9, für Kammgarn 797,4, für Streichgarn 1744 ist.
Komplett unverständlich für alle, die keine Textilingenieure, keine Spezialisten sind.
An sie bleibt es adressiert, das Werbegeschenk; die Freunde unseres Hauses, das sind die Spezialisten aus diesem Feld. Den Wirtschaftsprüfer, den kleinen Angestellten, erreicht die Gabe nur nebenbei.
Aber er darf die ganze Welt imaginieren, andeutungsweise, in der – die letzte Zeile der Umrechnungstabelle – 3000 Denier die metrische Nummer drei tragen, eine Lauflänge von 3000 Metern in Kilogramm, von 1489 in Yards per Pound ergeben und die englische Nummerierung 1,77 für Baumwolle, 2,7 für Kammgarn, 5,8 für Streichgarn tragen. Hermetische Poesie. Die Fäden von Spezialwissen umgarnen den Leser, probehalber.
Darauf folgt eine rechte Seite, auf der nur die Jahreszahl 1954 steht, und verso die kosmologische Mitteilung, »die Angaben über Auf- und Untergangszeiten von Sonne und Mond beziehen sich jeweils auf Sonntag und Donnerstag und sind errechnet in Mitteleuropäischer Zeit ( MEZ ) für den 50° östlich von Greenwich gelegenen Meridian (Görlitz) und die geographische Breite 52° 30’ (Berlin)«. Dieselbe Seite teilt mit, dass dieser Kalender von Wilhelm Eilers Jr. Bielefeld produziert und vertrieben wird.
Zwar fehlt auf dem Steckbrief für den Besitzer des Kalenders die Telefon- und jede andere Nummer für Vater (Bankschließfach, Postschließfach werden erfragt, ebenso wie das Autokennzeichen), aber hinten im Adressenteil erscheint die Bausparkasse Wüstenrot, Ludwigsburg, Bausparvertrag Nr. 832 457.
Der nächste Beitrag zum sozialen Aufstieg in der Bundesrepublik Deutschland: Abmeldung des Telefons, aber Abschluss eines Bausparvertrags; Befriedigung in der Gegenwart (telefonieren) wird durch Zukunftssicherung (Eigenheim) ersetzt. Irgendwie gelangte Vater zu dieser Zeit in den Besitz eines Grundstücks oberhalb von unserer kleinen Stadt. Der Familie ein Eigenheim zu bauen, das wurde ein Lebenszweck im Westdeutschland der fünfziger Jahre, und der Staat unterstützte die Verfolgung dieses Lebenszwecks durch allerlei Vergünstigungen. Wenn ihm schon kein Rittergut in der Ukraine zugewiesen ward, wie der Führer es versprochen hatte, spotteten die Kritiker, wie die Bundesrepublik sie zahlreich hervorbrachte, so beanspruchte der deutsche Mann doch für sich und seine Familie einen Bungalow am Hang, oberhalb der Stadt.
Am 1. Januar 1954 beginnt Vater mit einer Prüfung der Bücher von Röhm & Haas in Darmstadt. Am 2. Januar, einem Samstag, geht es gleich weiter, und Vater vermerkt in dem Kalender Arbeitstag für Urlaub (er wird sich einen freien Tag extra genommen haben, was er ausgleichen musste). Der Auftrag hat, wie er unter dem Rubrum Notizen vermeldet, die Nummer F 2202; Vater kann sich an die Telefonnummer 3071 halten. Er wohnt im Hotel Brenner – Telefon 4245 –, das in der Bleichstraße liegt.
Die Firma Röhm & Haas gründeten 1907 in Esslingen der Chemiker Otto Röhm und der Kaufmann Otto Haas. 1909 zogen sie von Esslingen nach Darmstadt, weil hier die Stadt ein großes Industriegelände anlegte, denn Darmstadt wollte an die kapitalistische Entwicklung Anschluss finden.
Otto Röhm profilierte sich als Erfinder zunächst auf dem Gebiet der Lederbeize. Er entwickelte Verfahren, die das eklige Beizen mittels Hundekot ersetzen konnten (Lederbeize mittels Hundekot, beginnt man zu träumen, Scheiße sammeln, um Tierhaut zu veredeln). Dann aber experimentierte Otto Röhm mit der Herstellung von Acrylglas (immer weiter dehnt sich die Welt des Kunststoffs aus), und 1933 kreierte er jenes Produkt, das den außerordentlichen ökonomischen Erfolg von Röhm & Haas begründete, Plexiglas (von der Lederbeize mittels Hundekot zu Plexiglas, eine glanzvolle Metamorphose), der perfekte Kunststoff, durchsichtig, flexibel, anders als Glas unzerbrechlich.
Röhm & Haas verdiente unmäßig an der Aufrüstung der Wehrmacht – man hat gleich diese Glaskuppeln vor Augen, unter denen die Kampfflieger der Luftwaffe wie im Freien hockten, wenn sie die Himmel stürmten,
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