Das Merkbuch
Segelboote, die abgetakelt vor Anker liegen, eines davon womöglich die Nöck, die so leicht kentert.
Der Knabe kneistet – kneift die Augen zusammen – gegen die Helligkeit des Sees und des Himmels. Die Grimasse erreicht auch seinen Mund, weshalb man meinen könnte, er lächelt – nein, es handelt sich bloß um eine allgemeine Verzogenheit des Gesichts. Dicht steht der Haarbusch oben auf dem Kopf; die Seiten sind geschoren, wie es sich für die Frisur kleiner Jungs ziemt (ebenso für erwachsene Männer: Vater trägt diese Frisur und Harry S. Truman). Weich und nackt liegen die gekreuzten Beine auf den Latten des Stegs, der Knabe trägt helle Shorts. Geschmackvoll kontrastieren dazu das dunkle Hemd und die dunkle Strickjacke, die helle Ornamente auf Brust und Schultern beleben.
An den Füßen trägt der Knabe Segeltuchschuhe, dunkler Grund, entlang der Sohle und der Schnürleiste weiß gesäumt: Dunkelblau (vermutlich) und Weiß, die emblematischen Marinefarben. Seinen besonderen Stolz machen aber gewiss die Kniestrümpfe aus, dramatisch geringelt, schön bunt (vermutlich) und auf die Hälfte der Wade herabgerutscht – das beweist Unmännlichkeit, wenn der Knabe andauernd die Kniestrümpfe hochzieht (wie ein Mädchen, das andauernd an seiner Kleidung nesteln muss). Entspannt ruht die rechte Hand auf der rechten Wade, während die linke, weil der Knabe den Unterarm auf den Oberschenkel abstützt, in halber Höhe schwebt, entspannt geöffnet.
Entspannt, ja, und gleichzeitig verkrampft. Mutter hat ihn auf diesem Steg im See platziert, um ihn zu fotografieren. Er muss hübsch aussehen, hübsch für Mutter. Das strengt an.
Zwar läuft sein Merkbuch für den Rest des Jahres 1956 leer, aber der Sohn macht von den vorgedruckten Tabellen hinten in dem Büchel einen bemerkenswerten Gebrauch.
Wichtige Daten ist einer der Vordrucke überschrieben, und der Sohn trägt ein: 4. April 1940 Bau der Raumstation Cola vollendet. 28. März bis 10. April Osterferien. 11. April Klassensprecher geworden. 9. November 1933 Atomica entdeckt. 11. Juli bis 26. August Sommerferien. 12. Mai bis 20. Juni Internationale Astronautische Kongresse in Vulkania.
Anschriften heißt die Adressen-Abteilung, und der Sohn möchte sie nutzen, wie er es von Vater kennt. So trägt er sinnlos Namen aus unserer kleinen Stadt ein, Angersbach, Ackermann, Defayay, Ermel, ohne Straßenangabe, bloß um dem Vordruck, der einen Eintrag fordert, zu entsprechen.
Andere Namen scheinen zu demselben Zweck einfach erfunden, Augustin, Köln; Abendroth, Ulm; Callani, Rom. Einen Sonderfall bietet Autenrieth, Stuttgart – beim Studium von Vaters Merkbuch merkte sich der Sohn den Namen des Schreibwarengeschäfts, wo Vater den Kalender für 1951 kaufte, als bedeutsam. Berlin Eugen, Verlag des Schwanenberger Albums, München, Angertorstr. 2 – das ist eine gewissermaßen realistische Adresse, denn der Sohn sammelt ja Briefmarken. Hierher gehört ebenso Sammlerdienst, Coburg, Bayern, Postfach 683.
Und dann finden sich Namen und Adressen aus seinem Weltall. Graf de la Fère, Atomica, Sektor Arens, Haupthaus, Zimmer 33. Krempe, Scalo, Sektor 1527, Werft, Venus, Sektor 28 – er kann gar nicht aufhören mit der Ausarbeitung der galaktischen Adressen.
Der Roman bringt sich zur Geltung, mit dem der Sohn das Jahr begann, die Merkurianer haben angegriffen, nichts erreicht, nein, nichts erreicht, denn es geht ja mit dem unspektakulären Alltagsleben eines 13-Jährigen in unserer kleinen Stadt weiter. Erst unter Wichtige Daten und unter Anschriften kann er noch mal einen Ausflug in den Roman wagen, historische Ereignisse und Adressen aus der Sternenzeit.
Dabei verdient der Graf de la Fère, der im Zimmer 33 des Haupthauses auf Atomica residiert – leicht erkennt man wieder einmal Vaters Aufschreibsystem –, besondere Beachtung.
Er stammt aus einem Roman, den der Sohn gelesen haben muss, Alexandre Dumas, Die drei Musketiere. Es handelt sich um den Klarnamen des edelsten und würdigsten von ihnen, Athos, der aus den Verstrickungen seiner Ehe mit einem She-devil namens Mylady zu den Musketieren floh und am Ende Mylady durch den Henker von Lille lege artis köpfen lässt.
»Jetzt sah man vom anderen Ufer den Henker langsam seine beiden Arme heben, ein Mondstrahl spiegelte sich in der Klinge seines breiten Schwertes, dann fielen die beiden Arme nieder, man hörte die Klinge durch die Luft sausen, dann den Aufschrei des Opfers, und eine zerstümmelte Masse rollte zu Boden.«
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