Das Merkbuch
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Was man viele Jahre später Horrorvideos nennt, spult sich ab im Kopf des Knaben. Vier Männer köpfen eine Frau. Besser, man schaut nicht rein, in die Knabenseele.
Die drei Musketiere und das Imperium im Weltall, 20 Jahre später konnte der Sohn im Kino Star Wars bewundern, den Film, der die beiden Fantasieströme vorbildlich und endgültig verbindet, Ritter und Raumfahrt.
Die Wichtigen Daten, die Adressen, die der Sohn in sein Merkbuch einträgt – wie er das bei Vater abgeguckt hat –, entwerfen noch einen weiteren Roman, in dessen Bann er steht: die Arbeitsexistenz seines Vaters. Die Aktentasche mit den unberührbaren Papieren, das Plexiglas, vor allem die Notizkalender, deren Funktionieren der Sohn sich von Vater genau erklären lässt, das ergibt ein konsistentes Idealbild, wer er sein sollte, ja, wie er teilweise schon ist: indem er die Wichtigen Daten und den Adressenteil seines Merkbuches nach dem Vorbild seines Vaters anlegt. So kann das Aufschreiben von Daten und Adressen eine literarische Tätigkeit sein.
Die ein heißes Fantasieren begleitet, ausgerechnet Daten und Adressen.
Am 23. Oktober 1956 organisieren die Studenten der Technischen Universität Budapest eine Demonstration, die Solidarität mit dem Aufstand der polnischen Arbeiter gegen die fortgesetzt stalinistische Politik der Partei bekunden soll.
Vaters Arbeitskapitel in dieser Zeit ist Genossenschaftskasse Bad Wildungen überschrieben.
Die Demonstration am 23. Oktober wächst sich zu einem ungeheuren Massenereignis aus, insofern zahllose Bürger spontan bei den Studenten mitgehen. Ein Teil der Demonstranten läuft zum Parlament, der größere zum Gebäude des staatlichen Rundfunks: um den Forderungskatalog der Studenten über den Sender zu verlesen.
Die Wachmannschaft eröffnete das Feuer auf die Menge – doch manche Soldaten schlossen sich dem Protest an und übergaben ihre Waffen an die Protestierer, die das Rundfunkgebäude stürmten. Daraus entwickelte sich ein Aufstand, eine Revolution, die das kommunistische Ungarn in eine bürgerliche Demokratie mit Gewaltenteilung, mit Presse- und Versammlungsfreiheit und freien Wahlen verwandeln wollte. Vor allem: in einen außenpolitisch neutralen Staat jenseits des sowjetischen Imperiums, nach dem Vorbild der Republik Österreich.
Vaters Arbeitskapitel ist überschrieben Spar- und Hilfsverein eGmbH, Borken. Er kopiert auf das Notizenfeld eine Verbindung, die ihn von 13.40 Uhr bis 14.41 Uhr in die Kreisstadt Melsungen bringt, wo Mutter und Sohn ihren kranken Fuß auskurierten, wo die Großmutter starb, wo der Sohn Tag für Tag das Gymnasium besucht.
Der Sohn verbringt diese Tage bei Tante, in dem großen Haus, das ihre Familie seit Urzeiten am Markt unserer kleinen Stadt besitzt. Tante – Onkel ist vor einigen Jahren gestorben – beschäftigte eine Haushälterin (sie folgte der Motorradfahrerin Kahler), deren Familie aus Ungarn stammte.
So klebt sie am Radio und seinen Nachrichtensendungen; am Fernseher, den Tante besitzt, eine rare Ausnahme in unserer kleinen Stadt. In weichem, klagendem Ton kommentiert die Haushälterin die Revolution in Ungarn.
Am 29. Oktober 1956 beginnt die israelische Armee eine Invasion von Gaza und der Sinai-Halbinsel, ägyptisches Territorium. Am 31. Oktober bombardieren die RAF und die französische Luftwaffe ägyptische Flugplätze.
Vaters Arbeitskapitel heißt immer noch Spar- und Hilfsverein eGmbH, Borken.
Als der neue Ministerpräsident Imre Nagy am 1. November tatsächlich den Austritt seines Landes aus dem Warschauer Pakt und die Neutralität Ungarns erklärt, beginnt die Rote Armee die Invasion. Zähe, anhaltende Kämpfe folgen, die aber die ungarischen Kräfte unmöglich gewinnen können.
Die ungarische Haushälterin von Tante erklärt dem Sohn immer wieder in ihrer weichen, klagenden Manier, dass die Westmächte in Ungarn eingreifen müssen zugunsten der Aufständischen. Hat der amerikanische Propagandasender für Osteuropa nicht immer wieder militärische Unterstützung versprochen in einem solchen Fall?
Mit der Beredsamkeit eines Leitartiklers erklärt ihr der 13-Jährige, dass das ganz unmöglich, dass das keinesfalls wünschenswert ist: Wenn die Westmächte in Ungarn eingreifen, befinden sie sich im Krieg mit der Sowjetunion, und das wäre der Dritte Weltkrieg. Womöglich mit Atomwaffen. Und dann wäre alles aus.
Israelische, britische und französische Land- und Seestreitkräfte bringen sich bald in den Besitz des Suezkanals.
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