Das Merkbuch
wie Publikum lässt nach (television); zweifelhafte Taschenbücher und gute.
Die Gruppe der Austauschschüler bereitete eine Sondernummer der Schülerzeitung vor, die über den Besuch im Vereinigten Königreich berichten sollte. Es gab Themen für die verschiedenen Arbeitsgruppen – das Thema, das der Sohn bearbeitete, hieß englische Bücher und englischer Buchhandel.
Er folgte strikt den Vorgaben Mutters, welche Bücher sie liebte und bewunderte. Die Bücher, die Vater draußen in der Welt prüfte, blieben für ihn ja unsichtbar, Worte.
Am 8. November, Dienstag – Vater prüft in Flörsheim am Main bei Döbbelin & Boeder die Abschlüsse mit Rabsilber aus den Jahren 1958/59 –, am 8. November wählen die Vereinigten Staaten von Amerika zum Präsidenten John F. Kennedy statt Richard Nixon.
Jetzt beginnt die neue Zeit!, jubelten Vater und Mutter und Sohn. Jetzt endet der Kalte Krieg, jetzt verschwindet die Todesangst, die uns seit dem Zweiten Weltkrieg begleitet.
Illusionäre Hoffnungen. Verständigung mit der Sowjetunion, Entspannung der Beziehungen, kooperative Lösung, wenigstens Entschärfung der deutschen Frage, das alles stand keineswegs zentral auf Kennedys Agenda. Dort fanden sie sich erst zehn Jahre später, als Richard Nixon doch noch amerikanischer Präsident geworden war . . .
Am 1. Mai, Sonntag, hatte die Sowjetunion über ihrem Territorium ein Spionageflugzeug der USA abgeschossen; dem Piloten Gary Powers machte sie den Prozess; die Gipfelkonferenz der vier Mächte in Paris am 16. und 17. Mai, auf die sich starke Friedenshoffnungen richteten, ließ die SU scheitern. Am 14. Oktober, Freitag, Vater anhaltend in Flörsheim, kulminierte eine Debatte im Plenum der Vereinten Nationen, New York, bei der es um die Entkolonisierung ging, die unterdessen stetig fortschreitet in Asien und Afrika, in einem Wutausbruch des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow, als Redner die Sattelitenstaaten der SU in Osteuropa Kolonien nennen. Eine mythische Szene: Chruschtschow zieht seinen Schuh aus und trommelt damit auf das Rednerpult vor Wut. Er war, wie immer, betrunken.
Egal, auf John F. Kennedy richteten sich Heilserwartungen. Er würde bewirken, dass alles sich fügt.
Solche Hoffnungen richteten sich damals noch auf Politiker wie Kennedy (und de Gaulle). Und Kennedy ähnelte am stärksten dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, welcher der Sohn selber gern geworden wäre. Obwohl er schon 43 Jahre alt war . . .
Die nächsten Jahre dokumentiert erneut kein Notizkalender von Mutter. Diejenigen Vaters umfassen 1961 und 1962 und 1963; danach verstummt er vollständig. Der Sohn fährt kontinuierlich fort, ein solches Merkbuch zu führen; Jahr für Jahr ließe sich auswerten.
Bei zweien von Vaters Merkbüchern, 1962 und 1963, handelt es sich erneut um die Werbegeschenke von Kohlenstromeyer. In beide schrieb Vater auf die entsprechende Seite seinen Namen und seine Adresse, wie all die Jahre zuvor. 1963 gibt es einen neuen Straßennamen; Vater und Mutter zogen wieder mal um in unserer kleinen Stadt; außerdem erreicht man die Telefonnummer 434 jetzt mittels einer Vorwahl, 05663.
Immer weiter geht es voran mit der Bundesrepublik.
Im Übrigen blieben Vaters Kohlenstromeyer-Kalender von 1962 und 1963 so gut wie vollkommen leer. Das Aufgezeichnete wirkt absolut zufällig: Am 14. Juli 1962 liest man Müller in Urlaub; am 19. Januar 1963 liest man 49,– einmalige Zahlung (Bleistift); im Notizenfeld unterhalb des 13. April liest man ab Saarbrücken 17.17 Uhr, DM 18.56 (Bleistift); am 13. Mai liest man Steuer 64/160, bis 11. 5. (Kugelschreiber). Dann vollständiges Schweigen, leere Seiten.
Ja, das wirkt vollkommen zufällig, als hätte Vater im Schlaf nach dem Merkbuch gegriffen, irgendeine Schreibfläche ist besser als keine Schreibfläche. Damit Poesie aus der Unbestimmtheit entstünde, dafür ist es einfach zu wenig.
Der Notizenteil hinten ist 1963 ganz leer; 1962 vermerkte Vater dort die neuen Postleitzahlen, Berlin 1, Kassel 35, Frankfurt/M. 6, Köln 5, Stuttgart 7, Saarbrücken 66, Korntal (wo sein alter Freund Erich Wertz unverändert in der Friedrichstraße 46 lebt) 7015.
Überhaupt sind es die Adressenverzeichnisse in beiden Kalendern, die Vater noch mit der gewohnten Sorgfalt angelegt hat.
Otto Dahl, Berlin NO 55, Marienburgerstr. 6
Dipl.-Kfm. Klaus Groetke, Bubiag
K. Hübner, Kassel, Tannenkuppenstr. 9, 12722
Dr. H. Heckmann, Worms/Rhein, Dankwartstr. 9, 4209.
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