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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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es sich um ein Merkbuch speziell für Frauen? So wie Vaters Kalender 1952 speziell einer für Männer war? Baur & Horn offerierte seine feinen Lederwaren ja vor allem der Damenwelt Kassels. Frauen brauchen keinen Adressenteil im Merkbuch, dachte man noch 1960; sie unterhalten ja keine nennenswerten Geschäftsbeziehungen, die brieflich und telefonisch zu pflegen wären.

    Die Notizblätter im Kalender des Sohnes enthalten keine außerirdischen Adressen mehr, Graf de la Fère und Vulkania und so. Dafür erfahren wir, dass die Familie Walter Purdy in der Chestnut Street unter der Nummer 113 wohnte. Dann folgt Jürgen Panten in Bad Sooden-Allendorf, Fritsches in Berlin und D. Wurtinger mit einer englischen Adresse in Gosforth, Northumberland – wobei wir annehmen können, dass die Adresse von Fritsches, Onkel Alfred und Tante Erika und so weiter aufzuschreiben inzwischen einen praktischen Nutzen hatte. Das Stadium von 1956, als der Sohn sinnlos Adressen in das Merkbuch schrieb, um dem Vorbild von Vater zu entsprechen, hat er hinter sich.
    Dann eine Namensliste, Tante, Fritsches, Hübners, Panten, Schmelz, Bonas. Darüber steht: zu schreiben an – Postkarten aus England, wie man interpolieren kann. Unten steht auf dieser Liste in der Handschrift von Mutter: die Mutter die Mutter die Mutter.

    Sie darf sich also das Merkbuch des Sohnes greifen, kommentiert die Psychoanalyse, und eigenhändig was reinschreiben: Er denke in England beim Schreiben der Postkarten und auch sonst immer daran, dass sie und nur sie die Hauptperson in seinem Leben ist.

    In dem Notizenteil des Kalenders von Vater findet sich gleichfalls Mutters Schrift. Eine Liste, die abgearbeitet werden will: Reisebüro, wann Abfahrt?, wo Abendessen?, Lunchbeutel?, Photokarten, 6 × 9 Film. Hähnchen, 2 Uhr, 6 Brötchen, Flasche weg.

    Jeder merkt, wenn wir das literarische Spiel fortsetzen wollen, dass so etwas Poesie hat. Sie entsteht an den Elementen, die nicht zusammengehen wollen. Dass man im Reisebüro den Termin von Abfahrt und Abendessen erfragt, ob man sich einen Lunchbeutel packen soll, das ergibt eine plausible Geschichte. Lunchbeutel, Kräuselzwirn, Wickelschlacken – Worte, die man sich merkt. Eine Geschichte, die Photokarten und Filme im Format 6 × 9 fortsetzen, aber Hähnchen 2 Uhr und 6 Brötchen und Flasche weg verharren komplett in Unbestimmtheit und sperren sich gegen die Geschichte, die mit Reisebüro beginnt. Indem du diese Elemente anzuschließen versuchst – kaltes Hähnchen in den Lunchbeutel?, für eine Mahlzeit um 2 Uhr? –, was misslingt, öffnet sich der Raum der Poesie.
    Vater und Mutter unternahmen eine kleine Reise, während der Sohn in Northumberland weilte, während der Urlaubstage von Vater im April.

    Von Mutters Hand finden sich außerdem im Notizenteil von Vaters Merkbuch zwei Zeichnungen.
    Die erste könnte eine Art Lageplan sein, wie ein Weg verlaufen sollte, in dem Garten, den Mutter und Vater seit Anfang der Fünfziger an dem Hang besaßen, den unsere kleine Stadt hinaufwächst.
    Ebenso könnte es um eine Wasserleitung gehen, Röhren, an denen das Wasser ins Freie tritt, um dann wieder in Röhren zu verschwinden.
    Die zweite Zeichnung zeigt ein Gesicht in der Schräge; der Kopf knickt nach rechts, als würde er in die Hand gestützt, die Augen fixieren die Zeichnerin. Elemente der Wasseranlage kehren im linken Nasenloch wieder; vage Striche führen, ohne sie auch nur anzudeuten, in Richtung des Halses und des Oberkörpers.
    Diese Striche bilden dann den Rahmen für ein schematisches Porträt von Adolf Hitler, die Tolle und der Schnurrbart (die Rotzbremse, wie Vater zu sagen pflegte). Hierfür hat Mutter den Kalender von Vater so gedreht, dass das eine mit dem nächsten Blatt ein Hochformat abgibt. Der Kalender steht auf dem Kopf. Immer noch ist Adolf Hitler immer dabei.

    Sie sitzen im Wartesaal des Bahnhofs von Kassel, der Schnellzug an die Nordsee oder ins Allgäu fährt erst in zwei Stunden. Mutter greift sich den Kalender von Vater, in dem er eben eine Zugverbindung nachgeschaut hat, und beginnt ihn zu zeichnen, wie er da an dem Tisch sitzt, den Kopf in die Hand gestützt, in der kanonischen Haltung des Melancholikers.

    Auf den Notizblättern im Merkbuch des Sohnes folgen Autorennamen und Buchtitel, Edwin Muir, Dylan Thomas, John Betjeman. J. R. Tolkien, The Two Towers. Adressen wie 19 Bedford Square und 41 Museum Street, Namen wie Mr. Chambers, Bookseller’s Association, 14 Buckingham Palace Gardens. Notizen

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