Das Merkbuch
ausschaue.
Am 9. Mai schreibt Vater in seinen Notizkalender: Frankfurt/M., Schlappeschneider, J. u. C. A. Schneider, Mainzer Landstr. 281/91.
Schlappeschneider, wie man in Frankfurt sagte, formell JCAS (Ikas), gründeten 1908 die Brüder John und Carl August Schneider als Spezialfabrik für Babyschuhe, und die Firma entwickelte sich bald zur weltgrößten Produktionsstätte für Hausschuhe und zum größten jüdischen Unternehmen der Stadt. Daneben profilierte sie sich, die schon 1911 die Brüder Adler übernahmen, zum Sponsor des Fußballclubs Eintracht Frankfurt, der deshalb als Schlappekicker bekannt war; der Firmenchef Walter Neumann, ein Cousin der Adlers, firmierte humoristisch als Schlappen-Stinnes und gewann qualifizierte Spieler aus dem ganzen Deutschen Reich, indem er ihnen Arbeitsplätze in seiner Firma anbot. Der legendäre Rudi Gramlich beispielsweise, später Vereinspräsident, arbeitete bei Ikas als Ledereinkäufer.
Er trat in die Waffen- SS ein, und Ikas wurde zwangsverkauft. Die Brüder Adler und Walter Neumann, die nur drei Prozent des Unternehmenswerts erlösten, emigrierten 1938 aus dem Deutschen Reich.
Das verfluchte deutsche Kapital, mit dem Vater immer wieder in Berührung kam.
Nein, Unfug, nach dem Krieg wurde die Firma den Brüdern Adler zurückerstattet. Sie verkauften 1954 ihre Anteile – und die Bücher dieses Unternehmens sind es, die Vater im Jahr 1960 prüft.
Dass er am 9. Mai 1960 zu Schlappeschneider nach Frankfurt reist, verzeichnet Vater mit seinem Füllfederhalter, den er all die Jahre neben seinem Bleistift verwendet. Die Flörsheim-Eintragungen dagegen, dafür verwendet er in diesem Jahr ein neues Schreibgerät, einen Kugelschreiber. Er drückt beim Schreiben so kräftig auf damit, dass sich stets Prägespuren auf den nächsten respektive den vorausgehenden Seiten finden.
Im Juni wieder Hommelwerke, Hommelwerke, Hommelwerke (Füllfederhalter). In Bleistift Berechnungen der Tagewerke, so der Terminus technicus, die er als freier Mitarbeiter dafür bei seiner Firma abrechnen kann. Normal 7 ½ Stunden pro Tag, heißt es, = 1 Tagewerk, unter dem 18. Juni in dem Notizenfeld.
Der Sohn kehrt in seinem Merkbuch für 1960 nicht zu den täglichen Aufzeichnungen zurück, deren er sich im Vereinigten Königreich befleißigt hatte. Allerdings bleibt das Büchel ebenso wenig einfach leer (wie 1956, nach der Mutterkatastrophe); entweder täglich oder gar nicht als Parole. Bei den spärlichen Notizen handelt es sich um Agenda, um Vorhaben, die abgearbeitet werden müssen; einschließlich der Titel von Büchern.
Axel. Tanztee. Dr. Engel. Programm Coca Cola. Musikalisches Wochenende.
Mac Zimmermann. Greguerias. Grasharfe.
Rainer, Zeitungskasten. Schulfest.
Dr. Engel, Resolution. Bezirkstagung. Blumen.
Schülerratssitzung.
Konzert.
Aula, Stühle, Harmonium, Helfer. Kurz.
Rotenburg.
Tagung Ludwigstein.
Schülerratssitzung. Tresckow.
Kreisjugendring.
Kirmes Wichte.
Party Ilse.
Wolfhagen.
Der Sohn war dies Frühjahr zum Schulsprecher gewählt worden, und so musste er Tanztees und Schulfeste organisieren, mit dem Chef und Dr. Engel, Kurz und Tresckow konferieren, Schülerratssitzungen leiten und an Tagungen in Ludwigstein und Wolfhagen teilnehmen. SMV nannte sich das, Schülermitverwaltung – was man später in Schülermitverantwortung änderte, weil die Juristen herausfanden, dass Schüler nicht mitverwalten dürfen.
Die SMV in Westdeutschland erkennt man als Mischprodukt. Einerseits die Tradition der deutschen Reformpädagogik, die Schüler intensiver am Schulgeschehen beteiligen wollte, indem die Anstalt begann, »eine seltsame Art von staatsbürgerlicher Erziehung zu betreiben, in der alles Notwendige noch einmal freiwillig und alles im Grunde Freiwillige notwendig sein soll«, wie einer aus der Frühzeit es sarkastisch beschrieb. 25 Andererseits die amerikanische Re-education, die Schulen nach pädagogischen Grundsätzen demokratisieren wollte, learning by doing. Das sollte für die Zukunft politisch interessierte Bürger, aber auch Politiker rekrutieren.
Jetzt befinden wir uns in der Zukunft, und von dem Sohn weiß niemand, dass er auch nur Kommunalpolitiker in unserer kleinen Stadt geworden wäre. Ganz anders als Helmut Kohl, der stets darauf hinwies, dass er schon auf dem Schulhof Politik machte und der es bis zum Kanzler der Einheit brachte . . .
Das Merkbuch von Baur & Horn bietet keinen Adressenteil, dafür (perforierte) Notizblätter.
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